Ruhrgebietsdeutsch:
Die Sprache des Märchens
Magisch, vieldeutig, schöpferisch sind die elementaren Kennzeichen der Sprache des Märchens. Schöpferisch, Vieldeutig, magisch sind die elementaren Kennzeichen der Ruhrgebietssprache. Die Gleichungen sind lange bekannt, und so ist es in der sprachwissenschaftlichen Forschung seit Jahrzehnten ein offenes Geheimnis (das allerdings niemand auszusprechen sich traut): Ruhrgebietsdeutsch ist die Sprache der Märchen.
So stammen die Bezeichnungen für das gesamte Gattungspersonal aus unserer Region, sind erst mit der hochsprachlichen Eindeutschung der Brüder Grimm durch allgemeine - aber bei weitem nicht mehr so märchenhafte - Begriffe ersetzt worden.
Die böse Schwiegermutter wurde ursprünglich völlig treffend olle Bratze tituliert, ein Bauer war ein Bollo oder Bollerkopp, Riesen waren Brackmänner und Zwerge ausschließlich Mickermänner. Der Arme nannte sich Klüngelspitt, der Reiche selbstverständlich Pattenpapst. Das ruhrgebietsdeutsche Ursprungswort für einen Märchenprinzen ist Flabes, sein Vater, der alte König, war der berühmte Dadderich. Die Prinzessin trat - klanglich und in der prägnanten Kürze unübertroffen - als Ische auf. Ja, selbst der literarische Terminus Märchen ist lediglich ein Grimmsches Kunstwort, lautmalerisch etwas dürftig abgeleitet vom ruhrdeutschen Pläuschken.
Bis ins späte achtzehnte Jahrhundert hinein begannen alle Märchen mit Waamaa soo dat … Niemand benutzte Es war einmal ... Und wenn Kinderaugen mit Hochglanz den Vater anschauten und von ihm wissen wollten, wie denn die spannende Geschichte, die er gerade erzählt hatte, in Zukunft weitergehe, dann hielt er für seine Zuhörer einen allerletzten großen Höhepunkt bereit: Und sein se nich kapott, dann kratzen sich anne Fott.
Die meisten der heutzutage allgemein bekannten Märchenverse glänzten im ruhrsprachlichen Original in anderer Fassung, z.B:
Die guten ins Töpfchen,
die schlechten ins Kröpfchen.
Bekanntlich lautet es im »Schmierläppken« kunstvoll:
Die guten innen Pott,
Die schlechten aufen Schrott.
Nicht viel Arbeit machten sich die Grimms bei »Hänsel und Gretel«.
Knusper, knusper, knäusken,
wer am knuspern an mein Häusken?
Da kann es bei ihnen nur wenige Minuten gedauert haben bis zu:
Knusper, knusper, knäuschen,
Wer knuspert an meinem Häuschen?
Komplizierter ist es beim »Schneewittchen«, in dem es heißt:
Spieglein, Spieglein an der Wand:
Wer ist die Schönste im ganzen Land?
Hier muß es weitere Einflüsse gegeben haben, vielleicht sogar aus dem arabischen Raum, denn in Ruhrdeutsch lautet es so ganz anders:
Wenn ich mich ma so bekucke:
Bin ich heute widder schnucke!
Zum Schluß noch ein Beispiel aus dem Spätwerk der Grimms, das einerseits verdeutlicht, wie schöpferischer Geist verglimmt, das andererseits die Magie der Urfassung eindrücklich unter Beweis stellt.
Grimm:
Heute back ich, morgen brau ich,
übermorgen hol ich der Königin ihr Kind!
Bei uns:
Mir nix, dir nix, rappzappzapp,
klemm mich die Olle von den Dadderich sein Krotz!
Ruhrgebietsdeutsch: Die Sprache des Märchens. - Sie ist ein politisches Kleinod: Die Klammer zwischen Westfalen und Rheinland; eine Stichwaffe gegen üble Bevormundungen aus Düsseldorf, Münster, Arnsberg und anderswo. Sie ist ein kulturelles Kleinod: Das älteste und wichtigste Zeugnis unseres regionalen Daseins; der Quell, aus dem wir Selbstvertrauen und Identität schöpfen. Etwas, auf das wir mit Recht sehr stolz sein können.
© Werner Boschmann
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