Idyllen des Nichts
Thomas Hettche ist ein Reisender in Sachen Literaturstipendien, absolvierte sie mal auf Sylt, in Rom, Wiepersdorf, oder Los Angeles. Den Protagonisten seines neuen Romans hat er auf eine Reise durch die USA geschickt, die nach heftigen Wirren in L.A. endet.
Der Fall des Biografen Niklas Kalf ist ein Kriminalfall, doch bezeichnet Hettche seinen Roman nicht wie den vorigen „Der Fall Arbogast“ als Kriminalroman, sondern der Verlag wirbt mit dem Genre des Thrillers, nennt ihn im Klappentext „atemberaubend.“ Einen langen Atem braucht der Leser auf jeden Fall, was ihn aber nicht in Langeweile stürzt, besitzt der Autor doch die Gabe, die Tempi wie in einem Musikstück meisterhaft zu variieren. Einem Furioso folgt ein Lento, einem Accelerando ein Ritardando, Kalf, Ende vierzig, begibt sich zur Recherche über den aus Deutschland emigrierten jüdischen Wissenschaftler Eugen Meerkaz in die USA. In einem New Yorker Hotelzimmer verfolgt er im TV, wie Bush die Nation auf den Irakkrieg einschwört. Wenige Stunden zuvor war Kalfs schwangere Frau Liz entführt worden. Nach einer Lesung im Goethe-House der Stadt erfährt er durch Venus Smith, einem eleganten Vamp im Rollstuhl, daß Liz’ Verschwinden mit seiner Recherche zum Leben und Wirken von Meerkaz zu tun hat. Man will von ihm Material zu dessen dubiosem Tod in einem militärischen Forschungslabor von L.A. kurz nach Ende des Kriegs. Doch er besitzt es nicht, was man ihm nicht glaubt. Um Liz freizubekommen, sucht er nun selbst eben dieses Material. Eine Spur führt nach Marfa, nahe der Grenze zu Mexiko. Hier nistet Kalf sich ein, verliert allmählich sich und die Erinnerung an seine Frau, könnte sich vorstellen, auf ewig in der Ödnis dieser texanischen Kleinstadt zu bleiben. „Er war sich nicht sicher, ob er hier war, um ein Geheimnis zu lüften oder nur, um sich zu verstecken“. Vor seinem bisherigen Leben? In der Tat zählt bald alles, was wichtig war, nicht mehr. „Das ist der Tick des Biografen. Er flüchtet in ein fremdes Leben,“ stellt Hettche in Namen seines Protagonisten fest. Kalfs Flucht durch die USA ist eine vor sich selbst, wobei er sich Tag für Tag fremder wird. In der Einsamkeit der neuen Haut, die ihm da wächst, stößt er bald auf die grundsätzlichste aller Fragen, nämlich, woraus wir denn gemacht sind. Das ist die Frage, die dem Buch den bedeutungsschwangeren Titel gegeben hat. Hettche lief immer Gefahr, sich in Gedankenschwere zu verlieren, was seine Erzählkunst häufig gehemmt hat, wollte er doch gemeinsam mit seinem Protagonisten als besonders klug erscheinen. Doch in diesem seinem vierten Roman gelingt es ihm endlich, zugleich tiefgründig und virtuos zu erzählen, so daß man das Buch nicht für einige Zeit beiseite legen muß, um sich von soviel Bedeutung zu erholen. 1989 hatte Hettche mit dem artistisch experimentellen Roman “Ludwig muß sterben“ debütiert. Der Autor, der Artist sein wollte, ließ „Inkubation“ folgen, eine Erzählung, die in permanenten Perspektivwechseln eine erotische Versuchsanordnung durchspielt. Im Roman „Nox“ erzählte er eine lange tödliche Reise ans Ende der Nacht der Nächte, die des Mauerfalls, bevor er mit dem romanhaften Essay „Animationen“ sein vielleicht bestes Buch schrieb, da dieses ungewöhnliche Genre erlaubte, Tiefgründigkeit und Erzählen ideal zu verbinden. Dann kam überraschend die Wende zur konventionellen Erzählkunst. Mit „Der Fall Arbogast“ und seinem neuen Roman scheint Hettche auf das große Publikum zu zielen. Doch das Genre des Kriminal- oder Actionromans birgt eine andere Gefahr in sich, fordert es doch zwangsläufig einen gehörigen Schuß an Crime, Sex, Action und eine verwickelte Konstruktion ein. Die kruden Actionszenen, die es in dem neuen Roman auch gibt, bleiben Episode und die verwickelte Konstruktion behindert den Erzählfluß kaum. Monatelang hat Kalf sich in Marfa eingerichtet, hat sein Interesse an der Welt verloren. Er genügt sich selbst und so unternimmt er keinen Schritt mehr, um seine Frau zu suchen.
Aber man sucht ihn, findet ihn in dem texanischen Kaff, lockt ihn in eine Falle, wobei er tötet, plötzlich Mörder ist. Er hatte gemeint, in Marfa ein neues Leben beginnen zu können, muß es nun aber verlassen, dessen Idyllen des Nichts Hettche in der Art eines Malers als Stilleben empfindsam und vielfarbig in Sprache zeichnet. Ziel ist L.A.. Dort wird sich der Fall lösen. Kalfs Reise durch die Tiefe Amerikas ist zugleich eine durch die Seele des Biografen. Dabei gelingen dem Autor grandiose Passagen, wenn er die Weiten des Landes in Bildern einfängt, die wie die eines langen ruhigen Kameraschwenks, aber eben doch aus Sprache sind. Die eigentliche Kunst Hettches ist jedoch das introspektive Erzählen. Er kriecht in die tiefsten Schichten seiner doch selbst erschaffenen Figur hinein und holt sie zu Tage, wobei es ihm gelingt, beides zu verbinden, ja zu überlagern, die Reise durch ein Land und eine Seele. „Keine Ahnung, was er jetzt noch tun sollte. Die Erinnerung an Liz bekam eine Ausweglosigkeit, die schal zu schmecken begann. Er sah weit draußen auf dem Meer den schwarzen Schatten eines Tankers. Der Himmel schimmerte in Rottönen, die langsam die Horizontlinie hinabschmolzen. Jener Glanz, der die Jogger innehalten lässt...hält nur wenige Minuten. Und während Kalf sich noch fragte, was er jetzt weiter tun sollte, verglomm der Himmel bereits und wurde stumpf, und alle beeilten sich, weiterzukommen.“ Und er selbst? Kommt er weiter? Findet er Liz wieder und Antwort auf die Fragen aller Fragen, woraus wir denn nun gemacht sind? Hettche zögert lange, doch schließlich gibt er auf den letzten acht Seiten des Romans für Kalf Antwort auf alle Fragen. © Jörg Aufenanger
Thomas Hettche - „Woraus wir gemacht sind“ (Roman) © 2006 Kiepenheuer & Witsch, 319 S. geb.
19,90 € Weitere Informationen: www.kiwi-verlag.de
|