Beeindruckender Ballett-Abend junger Choreographen in Essen

Home and Home / Ptah / This is Your Life

von Peter Bilsing
Beeindruckender Ballett-Abend junger Choreographen
 
Home and Home / Ptah / This is Your Life
 Premiere am 18. April 2009 im Aalto-Theater Essen
 

Eingerahmt von zwei eigentlich schon großartigen, abendfüllenden Balletten - nämlich Johann Ingers „Home and home“ von 2002 und Young Soon Hues „This is your life“ von 2008 - stellte der neue Ballettgeneralissimus des Aalto-Theaters Ben van Cauwenbergh jungen, teilweise auch aus seinem eigenen Ensemble stammenden, hochtalentierten Tänzerinnen und Tänzern, die große Bühne für tänzerische Kreationen zur Verfügung. Ein Abend für junge Choreografen.
 
Diese acht Mini-Produktionen stehen unter dem Übertitel „Ptah“, nach dem ägyptischen Gott der Schöpfung benannt. Jedes Stück ist ein Kleinod, nichts von Experimentierbühne, es sind superbe Tanzstücke, die jedes für sich individuell glitzern, wie die kostbaren Perlen einer Kette, die mit ihrem hohen technischen Status verzaubern, verblüffen ob ihrer hohen Kreativität und die, jedes für sich, den Zuschauer in einen neuen unbekannten Mikrokosmos Ballett-Magie hineinziehen. Stücke, die uns bewegen sollen, unterhalten, anrühren, Empathie fordern und teilweise auch von so atemberaubender, aber aktionsreicher Kürze sind (z.B. „Cube“), daß dem Zuschauer der Atem stockt. „Deutschlands beste Kurzchoreographien“ möchte man gerne schreiben, wenn der Begriff nicht so abgenutzt wäre, aber das würde auch die internationale Klasse schmälern – und die haben alle acht dieser Miniaturen, wenn auch auf höchst unterschiedliche Art und Weise. Überragend auch bei allen die perfekte Musikwahl.
 
Doch wollen wir den fast dreistündigen Abend chronologisch würdigen, denn jedes einzelne Stück ist es wert:
 
Home and home
 
Ein Stück, welches der damalige Direktor des legendären schwedischen Cullberg Balletts, Johann Inger, für seine Compagnie bereits 2002 choreographierte und welches schon einmal in Essen, im Jahre 2007, zu sehen war. Eine sturmvolle Choreografie mit dauernd wechselnden Bildern,

Home and home - Foto: Aalto
Perspektiven und genial eingesetzten minimalen Requisiten. Wobei die gelungene Lichtregie von Erik Berklund gerade auf der riesigen Bühne des Aalto überzeugende Momente schafft, die perfekt mit dem Rhythmus, den Gebärden, Sprüngen und Tanzbewegungen harmonieren. Das Thema aktuell „Eine junge Frau soll mit einem von ihr nicht geliebten Mann verheiratet werden, entzieht sich dem elterlichen Zugriff und flieht…“ bereitet Johann Inger, durchaus ironisch, mit unglaublichen Tempowechseln im Stakkato traumverlorener Bilder und liebevoll aufbereiteter Alptraumwelten dar.
Da öffnen sich Luken, Türen, Fenster und spucken immer neue Fantasie-Gestalten in köstlichen Kostümen (Mylla Ek) aus. Irgendwo lauert immer etwas Neues, etwas Unerwartetes…skurrile Figuren; wer ihnen die Hand reicht, wird scheinbar in andere Welten hereingezogen, die sich dann schnell als spaßige oder ernstgemeinte Luftblasen entpuppen. Der Witz schlägt in brutale Ernsthaftigkeit um, wen die Frau mit ihren Kopf verzweifelt gegen die Betonwand hämmert, da gefriert das anfängliche Lachen. Was für Bilder! Die Schwerkraft ist schier aufgehoben. Man geht über Wände, und Tänzer springen wie Gummibälle. Selbst der Tod ist noch makaber inszeniert, wenn die Frau schließlich wie ein alter, abgetragener Mantel an die Wand gehängt wird. Ein ungeheures Ballett mit ausgesuchter Musik von Bach, Amon Tobin, André Ferrari und Bogdan Raczynski. Was für eine brillante Choreographie – gleich am Anfang nicht enden wollende Ovationen, zu Recht.
 
Im zweiten Teil, namens „Ptah“ beginnt jedes Stück mit einem jeweils einminütigem Video, in dem sich die Choreographen und ihr Werk persönlich vorstellen. Das ist bezaubernd gemacht.
 
Erlösung
 
Vom jungen Ensemblemitglied, dem Brasilianer Cleiton Diomkinas auch selber aufgeführt, ist das Ballett eine tänzerische Umsetzung und persönliches Statement auf die Frage „ob es für das Leiden auf dieser Welt eine Erlösung gibt“. Zu den fast schon sinfonischen Klängen von „Requiem for a dream“ (Clint Mansell) zeigt Diomkinas einen unter psychischem Druck fast zerbröselnden, zerrissenen Menschen. „Viele Menschen können über ihren Schmerz nicht reden. Ich möchte die Gefühle des Verlustes, der Panik, der Verzweiflung und der Trauer zeigen…“ Eine Tanzsymbiose von bedrückender Schwere und Bodenständigkeit auch in den Bewegungen. Fabelhaft!
 
Circle of life
 
Nwarin Gad gehört seit zwei Jahren dem Essener Ensemble an. Der junge Ägypter stellt in

Cube - Foto: Aalto
Eigenperformance den Lebenskreislauf des Menschen dar. Er zeigt auf beeindruckende Art und Weise, wie der Mensch, egal ob „arm oder reich, weiß oder schwarz“, als quasi homo anonymos nackt geboren wird und auch so wieder unter die Erde gelangt. Im unausweichlichen Tod sind schließlich alle wieder vereint. Eigentlich ein raumtragendes Konzept für einen ganzen Ballettabend; doch auch in dieser Kurzversion schon mehr als überzeugend. Die passend zusammen geschnittene Musik ist von Declan Galbraith und Lisa Gerrad.
 
Cube
 
Ensemblemitglied Deniz Cakir zeigt, wie in einem experimentellen Raum drei Männer aus einem Labyrinth von Würfeln einen Ausweg suchen. Im Irrsinnstempo und halsbrecherischer Expressivität wirbeln Emil Wedervang Bruland, Tomás Ottych und Oleksandr Shyryayev über die Bühne, stets verfolgt und gefangen von Lichtquadern variierender Größe. Die Musik „Session“ von Linkin Park folgt den geradezu explosiven Tanzschritten. Nach knapp drei Minuten ist das Stück so abrupt und überraschend zu Ende, wie es anfing. Tosender Beifall!
 
Somehow
 
Adelin Pastor ist wahrlich schon in jungen Jahren Weltreisende in Sachen Tanz. In Nizza geboren,

Somehow - Foto: Aalto
realisiert sie Ausbildung und Kariere in Kuba, dann zurück nach Frankreich, über Paris nach Madrid und über das Hessische Staatstheater Wiesbaden zusammen mit dem Ballettchef jetzt nach Essen. Ihr im Prinzip klassisch-konservativ choreographiertes „Ein-Tages-Leben eines Schmetterlings“ zu Arno Babajanyans „Piece forte Piano“ integriert subtil und unaufdringlich auch Elemente und Bewegungen des modernen Tanztheaters. Ein wunderbarer Ruhepunkt im Reigen der wilden Jungen.
 
Maquete
 
Die Brasilianerin Michelle Yamamo gehört seit zwei Jahren zum Essener Ensemble. Ihre Choreografie für fünf Tänzer hat Humor und trägt stellenweise die köstliche Bewegungsironie eines van Manen. Es geht um Uniformität. Uniforme alltägliche Bewegungsabläufe werden karikiert und als Zwangsmechanismen des Alltags entlarvt, während sich im zweiten Teil alles auflöst und die schönen Dinge des Lebens in Form raumgreifender Ensembles und kurioser Gruppenbilder durchsetzen. Die Leichtigkeit des Seins dominiert in fußballgroßen, anscheinend schwerelosen und unzerstörbaren Luftblasen. Was für eine tolle und überzeugende Idee! Für mich die Choreografie des Abends: 5 Sterne!
 
Game
 
Platz zwei für Denis Untila. Bitte den Namen merken, denn was Untila hier als Dynamik eines Pokerspiels auf die Tanzbretter des Theaters zaubert, ist wirklich phänomenal. Seit Jooss „Grünem Tisch“ wurde nicht mehr so in, um, auf und unter diesem Mobiliar getanzt. Fabelhafte Kostüme und mit Mùms „We have a map of the piano“ und Lali Punas „Fast Forward“ auch noch zu irrsinnig gut passender Musik.
 
A motherless child
 
Die aus Brasilien stammenden Gäste André Baeta und Marcello Morales kommen vom Nachbartheater der Stadt Hagen. Sie choreographieren ein reines Männer-Pas-de-deux zu Van Morrisons „Motherless Child“. Ruhige Bewegungen und athletische Hebefigurinen dominieren in ihrem ausdrucksvollen Tanz, der die Spaltung eines Individuums personifiziert; die Auseinandersetzung einer Person mit ihrem Alter ego.
 
La voce di due mandoline
 
Der Albaner Tenald Zace kommt vom Kieler Ballett. Er setzt das Vivaldi-Konzert für zwei Mandolinen choreografisch in ein Ballett um, wo Mann und Frau diese musikalischen Rollen übernehmen. „Wie zwei Instrumentalstimmen umschlingen sie sich und wetteifern miteinander, um sich am Ende zu trennen. Ein Pas-de-Deux von höchster musikalischer Virtuosität.
 
This is your life
 
Nun hätte man hier den Abend durchaus und erfolgreich schon beenden können, aber als Zugabe und Finale Furiose präsentierte Cauwenbergh noch ein kleines, hochunterhaltsames Wunderwerk, einen weiteren Meilenstein im Schaffen der hochtalentierten Choreographin Young Soon Hue: das halbabendfüllende Ballett „This is your life“ mit Tango-Musik von Astor Piazzolla. Soon Hue beobachtet die Welt mit kritischen Augen; dabei geht es viel um die „Beobachtung des alltäglichen Wahnsinns der Menschen und Situationen“. Anläßlich ihrer Arbeit „Ampelfieber“ 2006 an der Rheinoper Düsseldorf schrieb ich „Sie choreographiert nicht nur mit Herz und Sympathie, sondern auch mit dem stets augenzwinkerndem Humor und Spaß einer feinsinnig souveränen Beobachterin“.
 
Die Tanzgeschichte beginnt mit einem „echten“ Conferencier in einer „echten“ Talkshow im Stil der

This is your life - Foto: Aalto
60er Jahre, oder ist es heute? Menschen von der Straße desavouieren sich coram publico. „Das sind Menschen, wie Du und ich. Ich möchte dem Publikum vermitteln, daß ihre eigenen Geschichten auf der Bühne vertreten sein können.“ Da ist das sich streitende Ehepaar, welches sich gegenseitig betrügt, der Geschäftsmann, der seinen wahren Beruf (Schauspieler) verfehlt hat, die verlassene melancholische Schöne oder die ständig affektiert palavernde Tunte aus dem Schönheitssalon. Ein diffuses Konglomerat skurriler, aber dennoch bodenständiger Typen, die erst reden und dann tanzen. Man tanzt seine Freude, sein Leid, seine Wünsche, Träume und Erfahrungen. Hier ist der Tango nicht nur Tanz, sondern erzählt Geschichten. Soon Hues brillante Choreografie beschleunigt das Tempo immer weiter, immer mehr Personage stößt hinzu, bis schließlich fast das ganze Ensemble in den großen Strudel der Musik Piazzollas eingeschlossen wird. Phantastische Kostüme von Sylvia Zuhr und Ulrich Lott.
 
Der dritte große Ballettabend in der beginnenden Ära von Ben Van Cauwenbergh, dem großen Gentleman des Tanzes, der es sich natürlich nicht nehmen ließ, sich am gestrigen Premierenabend bei alle Choreographen mit großen Blumensträußen persönlich zu bedanken. Der nicht enden wollende Beifall kam nicht nur von Familienmitgliedern und Freunden, er kam von Herzen. Selten hat ein Tanztheater-Chef eben diese Herzen seines Publikums derartig schnell und unkompliziert erobert.
 
P.S.:
Das unfaßbare und mittlerweile Aalto-typische Ärgernis mal wieder zum Schluß: Es gibt nur noch zwei Aufführungen – am 22. und 25 April! Tanztheaterfans bitte schnell einbuchen. Für Externe gilt: Hinfahren! Hinfahren! Hinfahren!
www.theater-essen.de

Redaktion: Frank Becker