Beeindruckender Ballett-Abend junger Choreographen
Home and Home / Ptah / This is Your Life Eingerahmt von zwei eigentlich schon großartigen, abendfüllenden Balletten - nämlich Johann Ingers „Home and home“ von 2002 und Young Soon Hues „This is your life“ von 2008 - stellte der neue Ballettgeneralissimus des Aalto-Theaters Ben van Cauwenbergh jungen, teilweise auch aus seinem eigenen Ensemble stammenden, hochtalentierten Tänzerinnen und Tänzern, die große Bühne für tänzerische Kreationen zur Verfügung. Ein Abend für junge Choreografen. Diese acht Mini-Produktionen stehen unter dem Übertitel „Ptah“, nach dem ägyptischen Gott der Schöpfung benannt. Jedes Stück ist ein Kleinod, nichts von Experimentierbühne, es sind superbe Tanzstücke, die jedes für sich individuell glitzern, wie die kostbaren Perlen einer Kette, die mit ihrem hohen technischen Status verzaubern, verblüffen ob ihrer hohen Kreativität und die, jedes für sich, den Zuschauer in einen neuen unbekannten Mikrokosmos Ballett-Magie hineinziehen. Stücke, die uns bewegen sollen, unterhalten, anrühren, Empathie fordern und teilweise auch von so atemberaubender, aber aktionsreicher Kürze sind (z.B. „Cube“), daß dem Zuschauer der Atem stockt. „Deutschlands beste Kurzchoreographien“ möchte man gerne schreiben, wenn der Begriff nicht so abgenutzt wäre, aber das würde auch die internationale Klasse schmälern – und die haben alle acht dieser Miniaturen, wenn auch auf höchst unterschiedliche Art und Weise. Überragend auch bei allen die perfekte Musikwahl.
Doch wollen wir den fast dreistündigen Abend chronologisch würdigen, denn jedes einzelne Stück ist es wert:
Home and home
Ein Stück, welches der damalige Direktor des legendären schwedischen Cullberg Balletts, Johann Inger, für seine Compagnie bereits 2002 choreographierte und welches schon einmal in Essen, im Jahre 2007, zu sehen war. Eine sturmvolle Choreografie mit dauernd wechselnden Bildern,
Da öffnen sich Luken, Türen, Fenster und spucken immer neue Fantasie-Gestalten in köstlichen Kostümen (Mylla Ek) aus. Irgendwo lauert immer etwas Neues, etwas Unerwartetes…skurrile Figuren; wer ihnen die Hand reicht, wird scheinbar in andere Welten hereingezogen, die sich dann schnell als spaßige oder ernstgemeinte Luftblasen entpuppen. Der Witz schlägt in brutale Ernsthaftigkeit um, wen die Frau mit ihren Kopf verzweifelt gegen die Betonwand hämmert, da gefriert das anfängliche Lachen. Was für Bilder! Die Schwerkraft ist schier aufgehoben. Man geht über Wände, und Tänzer springen wie Gummibälle. Selbst der Tod ist noch makaber inszeniert, wenn die Frau schließlich wie ein alter, abgetragener Mantel an die Wand gehängt wird. Ein ungeheures Ballett mit ausgesuchter Musik von Bach, Amon Tobin, André Ferrari und Bogdan Raczynski. Was für eine brillante Choreographie – gleich am Anfang nicht enden wollende Ovationen, zu Recht.
Im zweiten Teil, namens „Ptah“ beginnt jedes Stück mit einem jeweils einminütigem Video, in dem sich die Choreographen und ihr Werk persönlich vorstellen. Das ist bezaubernd gemacht.
Erlösung
Vom jungen Ensemblemitglied, dem Brasilianer Cleiton Diomkinas auch selber aufgeführt, ist das Ballett eine tänzerische Umsetzung und persönliches Statement auf die Frage „ob es für das Leiden auf dieser Welt eine Erlösung gibt“. Zu den fast schon sinfonischen Klängen von „Requiem for a dream“ (Clint Mansell) zeigt Diomkinas einen unter psychischem Druck fast zerbröselnden, zerrissenen Menschen. „Viele Menschen können über ihren Schmerz nicht reden. Ich möchte die Gefühle des Verlustes, der Panik, der Verzweiflung und der Trauer zeigen…“ Eine Tanzsymbiose von bedrückender Schwere und Bodenständigkeit auch in den Bewegungen. Fabelhaft!
Circle of life
Nwarin Gad gehört seit zwei Jahren dem Essener Ensemble an. Der junge Ägypter stellt in
Cube
Ensemblemitglied Deniz Cakir zeigt, wie in einem experimentellen Raum drei Männer aus einem Labyrinth von Würfeln einen Ausweg suchen. Im Irrsinnstempo und halsbrecherischer Expressivität wirbeln Emil Wedervang Bruland, Tomás Ottych und Oleksandr Shyryayev über die Bühne, stets verfolgt und gefangen von Lichtquadern variierender Größe. Die Musik „Session“ von Linkin Park folgt den geradezu explosiven Tanzschritten. Nach knapp drei Minuten ist das Stück so abrupt und überraschend zu Ende, wie es anfing. Tosender Beifall!
Somehow
Adelin Pastor ist wahrlich schon in jungen Jahren Weltreisende in Sachen Tanz. In Nizza geboren,
Maquete
Die Brasilianerin Michelle Yamamo gehört seit zwei Jahren zum Essener Ensemble. Ihre Choreografie für fünf Tänzer hat Humor und trägt stellenweise die köstliche Bewegungsironie eines van Manen. Es geht um Uniformität. Uniforme alltägliche Bewegungsabläufe werden karikiert und als Zwangsmechanismen des Alltags entlarvt, während sich im zweiten Teil alles auflöst und die schönen Dinge des Lebens in Form raumgreifender Ensembles und kurioser Gruppenbilder durchsetzen. Die Leichtigkeit des Seins dominiert in fußballgroßen, anscheinend schwerelosen und unzerstörbaren Luftblasen. Was für eine tolle und überzeugende Idee! Für mich die Choreografie des Abends: 5 Sterne!
Game
Platz zwei für Denis Untila. Bitte den Namen merken, denn was Untila hier als Dynamik eines Pokerspiels auf die Tanzbretter des Theaters zaubert, ist wirklich phänomenal. Seit Jooss „Grünem Tisch“ wurde nicht mehr so in, um, auf und unter diesem Mobiliar getanzt. Fabelhafte Kostüme und mit Mùms „We have a map of the piano“ und Lali Punas „Fast Forward“ auch noch zu irrsinnig gut passender Musik.
A motherless child
Die aus Brasilien stammenden Gäste André Baeta und Marcello Morales kommen vom Nachbartheater der Stadt Hagen. Sie choreographieren ein reines Männer-Pas-de-deux zu Van Morrisons „Motherless Child“. Ruhige Bewegungen und athletische Hebefigurinen dominieren in ihrem ausdrucksvollen Tanz, der die Spaltung eines Individuums personifiziert; die Auseinandersetzung einer Person mit ihrem Alter ego.
La voce di due mandoline
Der Albaner Tenald Zace kommt vom Kieler Ballett. Er setzt das Vivaldi-Konzert für zwei Mandolinen choreografisch in ein Ballett um, wo Mann und Frau diese musikalischen Rollen übernehmen. „Wie zwei Instrumentalstimmen umschlingen sie sich und wetteifern miteinander, um sich am Ende zu trennen. Ein Pas-de-Deux von höchster musikalischer Virtuosität.
This is your life
Nun hätte man hier den Abend durchaus und erfolgreich schon beenden können, aber als Zugabe und Finale Furiose präsentierte Cauwenbergh noch ein kleines, hochunterhaltsames Wunderwerk, einen weiteren Meilenstein im Schaffen der hochtalentierten Choreographin Young Soon Hue: das halbabendfüllende Ballett „This is your life“ mit Tango-Musik von Astor Piazzolla. Soon Hue beobachtet die Welt mit kritischen Augen; dabei geht es viel um die „Beobachtung des alltäglichen Wahnsinns der Menschen und Situationen“. Anläßlich ihrer Arbeit „Ampelfieber“ 2006 an der Rheinoper Düsseldorf schrieb ich „Sie choreographiert nicht nur mit Herz und Sympathie, sondern auch mit dem stets augenzwinkerndem Humor und Spaß einer feinsinnig souveränen Beobachterin“.
Die Tanzgeschichte beginnt mit einem „echten“ Conferencier in einer „echten“ Talkshow im Stil der
Der dritte große Ballettabend in der beginnenden Ära von Ben Van Cauwenbergh, dem großen Gentleman des Tanzes, der es sich natürlich nicht nehmen ließ, sich am gestrigen Premierenabend bei alle Choreographen mit großen Blumensträußen persönlich zu bedanken. Der nicht enden wollende Beifall kam nicht nur von Familienmitgliedern und Freunden, er kam von Herzen. Selten hat ein Tanztheater-Chef eben diese Herzen seines Publikums derartig schnell und unkompliziert erobert.
P.S.:
Das unfaßbare und mittlerweile Aalto-typische Ärgernis mal wieder zum Schluß: Es gibt nur noch zwei Aufführungen – am 22. und 25 April! Tanztheaterfans bitte schnell einbuchen. Für Externe gilt: Hinfahren! Hinfahren! Hinfahren!
www.theater-essen.de
Redaktion: Frank Becker
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