„Ich darf Sie sehr herzlich begrüßen…“

Über die scheinbare Demut des Redners

Ein Essay von Burkhard Vesper

Angela Merkel - Foto © Marcus Walter / Pixelio
„Ich  darf  Sie sehr herzlich begrüßen…“
 
Über die scheinbare Demut des Redners
 
 
Stellen Sie sich, lieber Leser, bitte einmal vor, Sie seien zu Gast in irgendeiner wichtigen Veranstaltung und der Gastgeber finge nicht einfach an zu reden, nein, er ergriffe - meist mit bedeutungsschwangerem Gesichtsausdruck und in nicht weniger bedeutungsvoller Tonlage, also insgesamt würdevoll - das Wort, indem er anhöbe: „Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf Sie zu unserer heutigen besonders wichtigen Veranstaltung sehr herzlich begrüßen“. Und stellen Sie sich bitte weiter vor, Sie nähmen das ernst, was Sie da hören, und Sie nähmen es vor allem wörtlich! Sie müßten dann konsequenterweise ein wenig erstaunt sein: Gut, wir haben ja nicht gesagt, daß er uns nicht sehr herzlich begrüßen dürfe, aber streng genommen hätte er bei der Formulierung „ich darf“ eigentlich vorher fragen können, wenn schon nicht fragen müssen.
 
So möchte ich denn Ihre Aufmerksamkeit für die nächsten 5 Minuten auf das Dürfen richten dürfen. Indem ich das so sage, wie ich es gerade gesagt habe, habe ich gleichzeitig zu verstehen gegeben, daß ich mir meiner Aussage möglicherweise nicht ganz sicher bin und mich eigentlich von dem, was ich ursprünglich sagen wollte („ … Ihre Aufmerksamkeit auf das Dürfen richten“) mit dem Prädikat „dürfen“ schon gleich wieder ein wenig distanziere, d.h. das vielleicht gar nicht so meine, wie ich es sage. Zumindest verstärkt das „dürfen“ die durch das „ich möchte“ bereits indizierte Bescheidenheit so, daß sie schon fast wieder wie eine allerdings leicht aufgesetzt wirkende Demut daherkommt. Ich hätte ja auch einfach schreiben können, für die kommenden 5 Minuten habe das Dürfen Ihre Aufmerksamkeit verdient.
 
Am direktesten und damit eindeutigsten wäre es natürlich, eine Nachricht ohne weitere Zusätze einfach nur abzusenden. In den alltäglichen Sprachgebrauch hat sich indessen die Unsitte eingebürgert, irgendwelche Aussagen mit Zusätzen wie „ich möchte (z.B. fragen) dürfen“, „ich muß Ihnen sagen“ (statt einfach was zu sagen) oder, fast noch beliebter, „ich weise Sie darauf hin, daß…“ einzuleiten. Ein Motiv dafür könnte sein, der eigentlichen Aussage zusätzliches Gewicht zu verleihen. Erreicht wird indessen das präzise Gegenteil. Die Aussage „damit liegen Sie völlig falsch“ ist aus sich heraus ein klarer und eindeutiger Hinweis. Der häufig vorgeschaltete Satz „ich weise Sie darauf hin, (daß Sie damit völlig falsch liegen“) ist eine Redundanz, also überflüssig und damit ärgerlich. Auch ein noch so wichtiger Hinweis bedarf keines Hinweises darauf, daß er einer ist! Es sei denn, der Autor eines originären Hinweises ist sich über dessen Inhalt, Berechtigung oder Wahrhaftigkeit unsicher oder er befürchtet, sein Hinweis könnte aus welchen Gründen auch immer nicht ernstgenommen werden.
 
Die Einleitung „ich weise Sie darauf hin…“ ist also nicht nur eine ärgerliche Redundanz, sie indiziert auch bereits eine gewisse Unsicherheit des Autors über das, was er eigentlich sagen will. Und je unsicherer der Autor ist, desto geneigter weist er einleitend nicht nur auf was auch immer hin, sondern er tut das zusätzlich „mit Nachdruck“, was dann in aller Regel auf eine gewisse Inhaltsleere des Hinweis-Gegenstandes schließen läßt, weshalb es ja des Nachdrucks bedarf. Und Politiker sagen, was sie sagen, nicht nur „mit Nachdruck“, sondern häufig und gern auch „sehr deutlich“, womit sie möglicherweise die von ihnen selbst empfundene Inhaltsleere ihrer Aussage ein wenig kaschieren und letzterer über die Formulierung „ … und ich sage sehr deutlich…“ wenigstens etwas Gewicht verleihen wollen. Vielleicht ist ihnen aber auch selbstkritisch bewußt, daß sie als Politiker unter dem Generalverdacht stehen, sich eher undeutlich auszudrücken, und sie diesen Verdacht wenigstens für die unmittelbar bevorstehende Aussage ausschließen wollen. So wird die Formel erlaubt sein: je unsicherer ein Politiker sich seiner Aussage und je inhaltsleerer diese ist, desto häufiger wird er sie mit Nachdruck bzw. in aller Deutlichkeit vortragen.
 
Aber zurück zum Dürfen. Noch ein wenig weiter weg von der eigentlichen Aussage wirkt die Version „ich möchte Sie darauf hinweisen…“. Dieses „möchte“ kommt doch schon ziemlich demütig daher. Wiederum ein wenig weiter weg von der originären Aussage entfernt sich dann die Formulierung “Ich darf Sie darauf hinweisen…“. Das „darf“ klingt ja fast schon nach einer verkappten Erlaubnis, die der Autor zwar nicht eingeholt hat, aber unterschwellig glauben machen will, sie dennoch eingeholt zu haben. Jeglicher Mut aber scheint den Autor verlassen zu haben, der da sagt: „Ich möchte Sie darauf hinweisen dürfen…“. Diese doppelte Zaghaftigkeit klingt so, als wolle er sich dafür entschuldigen, daß er überhaupt hinweist. Das Dürfen soll wohl einerseits Demut assoziieren und damit den Hörer dem Autor geneigter stimmen, auf der anderen Seite klingt diese Demut aber irgendwie auch wieder ganz schön keck, weil sich der Autor ja immerhin die Freiheit nimmt zu dürfen und das mit dem einleitenden „ich möchte“ auch noch unterstreicht. Überdeutlich tritt solch kecke, fast schon freche Demut zutage mit der Turbo-Version „Ich muß Sie darauf hinweisen dürfen…“, obwohl das Müssen und das Dürfen ja eigentlich einander außer Kraft setzen. So, als wollte man sagen „Eigentlich wollte ich ja gar nicht…, aber Sie blöder Kunde (oder wer je nach Bedarf gerade der meist blöde, weil ja eigentlich schuldige Adressat ist) zwingen mich ja dazu“.
 
Das Dürfen erlebt seit Jahren eine Inflation, ohne daß irgendjemand ein Bedürfnis danach geäußert hätte. Wir alle kennen (und viele von uns lieben) die Floskel „Es ist mir ein echtes Bedürfnis“ - wobei das Bedürfnis, obwohl als lexikalisch so definierter „teils bewußter, teils verborgener psychisch oder sozial bedingter Bestimmungsgrund menschlichen Handelns“ per definitionem ein Schwergewicht, für sich allein schon nicht mehr ausreicht, weshalb man es mit dem Verstärker „echt“ versieht, gleichsam als ob jemand den Verdacht hegen könnte, das Bedürfnis sei nur gespielt. Hier warne ich Unvorsichtige: ich kenne da Bedürfnisse, die im Ernstfall so echt, weil so dringend sind, daß man nach ihnen sogar - übrigens semantisch zutiefst deutsche  -  Einrichtungen, nämlich „Anstalten“ benannt hat.  Womit wir nahezu übergangslos beim  Müssen gelandet sind.
 
Das Müssen ist nicht nur der ebenso inhaltliche wie semantische Gegensatz zum Dürfen, es ist auch - von wegen „Hilfs“verb, was eine starke Untertreibung seines wirklichen Gewichts ist - der alltäglich brutal in unsere Kommunikation eingreifende und diese bestimmende Imperativ, der kaum andere Verben neben sich duldet, ja nahezu alle anderen Verben unterdrückt. Wer muß, kann eben gar nicht anders. Das Müssen entfaltet eine nachgerade unfaire Vormachtstellung jedes mit ihm eingeleiteten Verbs, weil man halt muß, also nicht anders kann. Eine weitere Konsequenz dieses Müssens spielt sich auf der Verantwortungsebene ab: man muß ja, weil nichts Anderes mehr geht, und damit ist man dann auch schwups! die Verantwortung für sein Handeln los, weil man ja in auswegloser Situation gleichsam aus Gründen höherer Gewalt so handeln mußte. Es ist schließlich ein Unterschied, ob man z.B. als Bundesregierung die Steuern erhöhen will (weil man vielleicht eine -  Gott behüte - sinnvolle politische Idee hat, für die man Geld braucht und die man sorgfältig begründet) oder eben erhöhen muß, wobei die Ursachen solchen Zwangs, weil in aller Regel nicht existent oder vermittelbar, häufig genug verschwiegen werden. Wenn man etwas tun muß, scheint ja eine weitere Begründung auch nicht mehr erforderlich. Man mußte halt was auch immer tun, weil wie gesagt höhere Gewalt obwaltete. Eine pauschalere Entschuldigung scheint kaum vorstellbar, allerdings auch kaum eine frechere.
 
Darüberhinaus ist das Müssen im Leben eines Jeden auch eine der ersten Befindlichkeiten, die der Mensch verbaliter zu äußern lernt, in den meisten Fällen mit dem Satz „Mammi, ich muss mal“. Aber auch der älter gewordene Mensch hat natürlich Anspruch auf das Erledigen seiner Grundbedürfnisse, wenn er z.B. den Mammi-Satz leicht abwandelt in “Es kann auch Situationen geben, in denen ich einfach müssen dürfen muß“. Der große Lessing war da übrigens ganz anderer Meinung: er läßt seinen „Nathan“ in nur vier Worten das gesamte Toleranz-Prinzip der Aufklärung formulieren - „kein Mensch muß müssen“. Das stimmt, gewisse Grundbedürfnisse des Menschen betreffend, zwar nicht ganz, wie wir gesehen haben, aber zumindest beim Anblick des Toleranzprinzips der Aufklärung ist Lessing natürlich vorbehaltlos zuzustimmen.
 
Wenn wir uns jetzt sozusagen e contrario vom Müssen her wieder dem Dürfen nähern dürfen, dann wäre das Gegenteil von „kein Mensch muß müssen“ nicht etwa „jeder Mensch darf dürfen“, weil in dieser Aussage dem Dürfen das (dem Müssen immanente) Zwanghafte fehlen würde (oder mit dem korrekteren Konjunktiv fehlte). Es müßte also eigentlich heißen „jeder Mensch muß dürfen können“. Spätestens damit ist das Können als dritte Kategorie zum Müssen und Dürfen hinzugetreten. Während das Müssen und das Dürfen sich beide am Einhalten oder eben Nicht-Einhalten von Vorschriften entlang hangeln, eröffnet das Können, wenn man so will, weitergehende, nämlich an den eigenen Möglichkeiten orientierte Perspektiven und Potentiale. Dies allerdings nur dann, wenn der Mensch mit seinem ganzen Willen -  literaturgeschichtlich keinem bestimmten Autor zuordnungsfähigerweise „des Menschen Himmelreich“ - und Wollen daran arbeitet.  D.h., dem Menschen öffnen sich durch das Wollen Möglichkeiten und Chancen, die er durch seine Fähigkeiten verwirklichen kann, die das Müssen gerade wegen seines zwanghaften, in der Regel Trotz und Ablehnung bewirkenden Charakters aber am Ende eher verhindert und die das Dürfen wegen seiner ihm immanenten Grenzen wohl nie zugelassen hätte.
 
Mit den Kategorien des Voluntaristischen, also des Wollens und seiner Quelle, des Willens - Schopenhauer hat mit seiner Schrift „Die Welt als Wille und Vorstellung“ keineswegs zu hoch gegriffen - und der Fähigkeit, etwas zu bewirken oder wenigstens einfach zu tun, also des Könnens, wird das Quartett der, wie wir gesehen haben, inhaltlich und in ihren eigentlichen Aussagen doch sehr vielschichtigen und starken Hilfsverben nun endlich vollständig: wir müssen, wenn wir über das Dürfen reden, auch über das Wollen reden können. Das Müssen übt nach seinem Wesen einen gewaltigen Druck auf uns aus, das Wollen zwar auch, kommt aber immerhin freiwillig aus uns selbst, das Dürfen schränkt uns über seine ihm immanenten Verbote ein, das Können ermutigt uns und weist nahezu ohne Einschränkungen nach vorn, es unterstützt auf Verdacht nahezu jede Erscheinungsform von Optimismus - dessen wir besonders in Krisenzeiten wie den heutigen dringend bedürfen. Erst über dieses Hilfsverben-Quartett eröffnen wir uns Menschen also alle Optionen unseres Denkens und Handelns:  zur freien Entfaltung unserer Persönlichkeit müssen wir eben wollen dürfen, was wir können oder zumindest zu können glauben! Lassen Sie uns alle gemeinsam - oder vielleicht doch besser jeder für sich - daran arbeiten….
 
Und wenn Sie wollen, dann müssen Sie nicht, Sie können aber diese meine Gedanken zum Anlaß nehmen, Ihrerseits darüber nachzudenken, in welchem Umfang Ihnen und uns allen derlei Sottisen täglich zugemutet werden. Das geht ganz einfach: Sie müssen nur ganz genau zuhören, wenn sich ein Politiker, Verbandsfunktionär oder ein Journalist (insbesondere im Rahmen eines Kommentars) absolut unabhängig von seiner politischen Einfärbung zu einem x-beliebigen Thema äußert. Sie werden erstaunt sein, was da alles gewollt und gekonnt wird, was wer muß und darf (oder auch nicht) und was Ihnen so alles „mit Nachdruck“ und „in aller Deutlichkeit“ an Inhaltsarmut und leerem Wortgeklingel, dabei immer wohlverpackt in Richtig-  und Wichtigkeit assoziierende Worthülsen, zugemutet wird. Ich verspreche Ihnen ein signifikantes Ansteigen des Unterhaltungswertes insbesondere des Politik-Teils Ihrer Zeitungslektüre und der Nachrichten- und „Magazin“-Sendungen im TV, insbesondere wenn Politiker mit irgendwelchen Aussagen live eingespielt werden. Deren Aussagen wirken, gefiltert durch Ihre nunmehr auf Worthülsen sensibilisierte Wahrnehmung, dann immer wieder als das „Phrasengeschnetzelte“ auf der politischen Menükarte.
 
Leider lassen sich gerontologiae causa drei der größten Virtuosen auf diesem Gebiet so gut wie nicht mehr in Funk und Fernsehen vernehmen: Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl. Schmidt war mit Recht dafür gefürchtet, daß er Journalistenfragen, die ihm, was häufig vorkam, nicht paßten, mit dem Hinweis zu korrigieren liebte, ja pflegte: „die Frage ist so nicht richtig gestellt“, um dann nicht auf die gestellte Frage zu antworten, sondern, z.T. in absolut sicherer Entfernung von der gestellten Frage, seine eigene Botschaft abzusetzen. Genscher hatte die Gabe, Alptraum eines jeden vor allem investigativen Journalisten, auf eine noch so einfache Frage in 30-Minuten-(für seine Verhältnisse Kurz-)Referaten ebenso mühelos wie druckreif zu antworten, ohne auch nur einen Halbsatz zum Thema zu sagen. Und der unvergessene Helmut Kohl war es auch, der als absolut erster, allerdings auch am absolut häufigsten das, was er sagte, mit Nachdruck und in aller Deutlichkeit sagen mußte, wobei für ihn natürlich immer auch wichtig war, was hinten herauskommt.
 
Insoweit waren diese drei großen alten Männer der Politik durchaus Menschwerdungen sprachlichen Wolkendunstes. Und zumindest auf Kohls gestanzte Worthülsen müssen wir noch immer nicht gänzlich verzichten, hat er uns doch nicht nur im Amt des Bundeskanzlers eine kongeniale Nachfolgerin hinterlassen. Diese hat nämlich eine der entlarvendsten Floskeln - wirklich nur eine Floskel oder nicht doch ein (hoffentlich unfreiwilliges) Bekenntnis? - ihres großen Vorgängers übernommen: die Floskel von „den Menschen draußen im Lande“. Dieses „draußen“ legt ja zwingend den Schluß nahe, daß die Politiker irgendwo „drinnen“ sind, welche Innenwelt auch immer das sein mag. Da aber beide Zielgruppen füreinander sichtbar sind, liegt wohl so etwas wie eine schalldichte Glaswand zwischen „uns Politikern drinnen“ und „den Menschen draußen im Lande“. Überzeugender kann man als Politiker(in) sein - auch aus anderen Indizien ableitbares - offensichtlich autistisches Selbstverständnis kaum mehr zum Ausdruck bringen.
 
Und noch einmal zurück zum Dürfen. Es ist hoffentlich ein wenig klar geworden, daß das Verständnis von Wörtern durchaus in den Wörtern selbst liegen mag, ein Blick auf ihr jeweiliges inhaltliches Gegensatz-Wort aber eben auch mehr als hilfreich wirken kann - getreu der Erkenntnis, daß Vielfalt bereichert, was man von deren Gegensatz Einfalt in aller Regel nicht wird behaupten können. So ist unser Ausgangs-Hilfsverb dürfen durch seine inhaltliche Antipode des Müssens doch um manche Facette bereichert worden. Und daß wir auf diesem Wege dem Können und Wollen als gar nicht so sehr entfernten verbalen Verwandten begegnet sind, sollten wir nicht wirklich bedauern.
 
Und jetzt muß ich mal: ich muß Ihnen nämlich jetzt einfach einmal sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit danken dürfen.
 
Ihr
Burkhard Vesper


© Burkhard Vesper - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker