Der Ring des Nibelungen

Die legendäre Weimarer Ring-Produktion jetzt komplett auf Arthaus-DVD / Juli 2009

von Peter Bilsing

„Der Ring des Nibelungen“ –
Ein Spiel, aus dem Ernst wird

 

Michael Schulz inszeniert
eine große brutale Familien-Saga.
Ein opera-tiver Geniestreich


Das ist also der Mensch…und das soll die Krone der Schöpfung sein?“ (Alf)



O.k.
meine verehrten Leser! Sie sind Wagner-Kenner und -Liebhaber und besonders „Der Ring des Nibelungen“ hat es Ihnen angetan. Sonst würden Sie jetzt nicht weiterlesen. Das kann ich verstehen, denn mein persönlicher Einstieg in die Operwelt war genau dieses Monumentalwerk. Von 17 – 27 Jahren gab es für mich neben Deep Purple, Uriah Heep, Pink Floyd und den Stones nur dieses klassische Werk. Ich war Ring-verrückt. Ein Wagner-Freak. Der jährliche Besuch in der Rheinoper war Pflicht. Die Beatles waren für mich so weichgespülte Musik, wie ich Verdi als Zirkusmusik-Composer empfand. Der Mensch ändert sich gottseidank, heute spiele ich Klavier statt Schlagzeug, bringe eine eigene Opernzeitung heraus, und treibe mich unentwegt, auch vielfrustriert, in den Operhäusern dieses Landes herum, aber gewisse Fragen, gleich wie oft ich auch den Ring sehe oder mittlerweile durchschlafen habe, blieben stets:
 
Wieso, weshalb, warum...

W
arum gibt es eigentlich nur drei Rheintöchter in diesem gigantischen, über 1300 Kilometer langen Strom? Was wurde aus den anderen Göttern nach dem „Rheingold“? Wo bleiben die böse betrogenen Nibelungen später in der Tetralogie? Was trieb Alberich noch nach seinem Kurzauftritten in „Siegfried“ und „Götterdämmerung“? Er ist doch schließlich eine der wichtigsten Figuren! Was wurde aus dem Waldvogel? Wieso gibt es nur einen? Im Text heißt es doch, daß Siegfried der Vöglein (Plural) Sprache verstehe! Was macht eigentlich Wotan, die treibende Kraft dieses Dramas, nach seinem schmählichen Abgang im „Siegfried“? Wo kommt so plötzlich, ohne jegliche Vorgeschichte, Alberichs Sohn Hagen her? Immerhin eine Hauptfigur, welche den Ausgang des Nibelungendramas mehr als nachhaltig bestimmt? Ist Hagen wirklich so ein bösartiger Psychopath, wie immer dargestellt? Warum wird seine schlimme Jugend nicht strafmildernd berücksichtigt? Sind Gunter & Gutrune tatsächlich nur unbedeutende Nebenrollen? Was ist mit Grane? Nur ein Pferd, oder hat es weiteren symbolischen Charakter? Was für eine Rolle spielen eigentlich die Menschen noch auf dieser Erde?
 
Regisseur Michael Schulz, jetziger Intendant an NRWs vielleicht zur Zeit interessantester Bühne, dem „Musiktheater im Revier“ (MiR), und sein Team (Bühne: Dirk Becker, Kostüme: Reneé Listerdal, Dramaturgie: Wolfgang Willascheck) haben viele dieser Fragen mit einer tollen Arbeit in der nun in bildlicher Perfektion und gehaltvollen DD 5.1. Ton vorliegenden Ring-Gesamtaufnahme (7 DVDs) aus dem Deutschen Nationaltheater in Weimar beinah perfekt beantwortet.
 
Nach langem Ring-Durchleiden endlich die ultima ratio

Der Firma Arthaus sei Dank, daß man sich (mal wieder) in die Gefilde der „Provinz“ gewagt hat, um diese außergewöhnliche und überragende Inszenierung zu dokumentieren. Nicht nur unser
Fachkollege aus Weimar versicherte mir, daß man auf der nun erhältlichen DVD-Fassung erheblich mehr Einzelheiten sehe, als an den Live-Abenden. Insbesondere die szenische Emotionalität gewinnt durch die Nahaufnahmen der furiosen Darsteller. Nicht erste Reihe - wir sind mittendrin dabei! Gesichter, die sich fast alptraumhaft einprägen. Manches verfolgt den emotionalen Opernfreund noch im Schlaf. Was hat Schulz für Überzeugungsarbeit geleistet, daß ein riesiges Team von Künstlern sich so perfekt und individuell überzeugend in die Rollen einbringt, und so sein atemberaubendes Konzept realisiert, welches allerdings, insbesondere für Altwagnerianer, sicherlich erst einmal gewöhnungsbedürftig ist. Aber auch den härtesten Vertreter konservativer Aufführungskunst sollte diese intelligente Inszenierung überzeugen. Außerdem hat selten jemand sonst eine Wagner-Oper so textverständlich, so texttreu und so ernsthaft erarbeitet und zeitkritisch aktuell hinterfragt. Wie viele Ringe habe ich durchlitten, die wirklich zum Jammern waren...
 
Und eine der besten kommt nun auf DVD fürs Heimkino daher. Ich werde langsam in meinem ehernen Grundsatz schwankend, daß man eine Oper unbedingt live sehen muß. Was für eine tolle Inszenierung, fast eine Über-Inszenierung, noch dazu in optimaler Bildqualität! Es zittert die Seele, verkrampft sich das Herz! Schließlich steht man als Kritiker am Ende einsam aus seinem Ohrensessel auf und applaudiert, als befände man sich im Opernhaus. Vieles ist natürlich diskussionswürdig, aber nach Patrice Chereau (Bayreuth 1976) und John Dew (Krefeld/Mönchengladbach 1984) ist das für mich wirklich eine der mit Abstand besten und werktreu durchdachtesten Produktionen des Wagnerschen Rings. Durchgängig überzeugende Musiktheaterdarsteller – ein Jahrhundertring fürs 21.Jahrhundert, der nicht nur virtuos unterhält, sondern auch zum Denken anregt! Bilder, die bleiben.
 
Makellos dank Carl St. Clair

Die Geschichte ist so spannend und ergreifend, daß ich die Frage der gesanglichen Qualität mancher Künstler stellenweise sogar als sekundär bezeichnen möchte, so sehr wird man aufgrund der überragenden darstellerischen Fähigkeiten in die Geschichte hineingezogen. Dennoch gibt es viel, viel zu entdecken. Pars pro toto Mario Hoff (Wotan, Alberich, Gunter), Erin Caves (Loge, Siegmund) und natürlich die unerhörte Brünnhilde von Catherine Foster; nicht zu vergessen der großartige Renatus Meszar (Fasolt, Wotan, Hagen). Bayreuth muß sich daneben teilweise schämen... Unfaßbar! Kaum zu glauben für ein 800 Seelen-Theater ist auch die musikalische Präsenz der Staatskapelle Weimar. Alles live aufgenommen und die moderne Digitaltechnik würde kleinste Fehler hörbar machen, wenn da welche wären. Wuchtige Bläser, makellose Hörner (kein einziger schräger Ton beim Siegfried-Motiv!) und ein vielgeteiltes unisono berauschendes Streichermeer, als säßen wir in der Wiener Staatsoper. Carl St. Clair wählt die passenden Tempi ohne zu verschleppen oder zu übereilen. Selten habe ich den Trauermarsch so einfühlsam spannungsgeladen gehört. Perfekter Wagner!
 
Im Zentrum steht Übervater Wotan, der Familien-Mogul, ein skrupelloser Egomane, ein echter Drecksack. Er entpuppt sich als eine Mischung zwischen Jack the Ripper und Josef Ackermann. Brandstifter und Biedermann; Big Boss und Gewalttäter zugleich, ein leidlicher Ehemann und Massenmörder, der sich mit Hilfe seiner Kumpane und Gleichgesinnten die Welt durch Totschlag und Vergewaltigung gefügig macht. Eines Welterbes in Form des Rheingolds bedarf er schon gar nicht mehr, Kapital ist bedeutungslos geworden – zwei Symbole, Ring und Tarnhelm, sind die Insignien der Macht. Und so wird logischerweise das Wald-Vöglein später auch den noch unbefleckten Siegfried einzig darauf hinweisen, während es die wertlosen Aktien und Geldscheine aus Fafners Hort wie welkes Laub im Wald verteilt. Kann man näher an die Gegenwart kommen? Was für ein verteufeltes Stück hat Richard Wagner da geschrieben? Wirklich zeitlos? Oh ja!
 
Zeitlos und bitterböse

Es ist ein bitterböses Spiel, dessen Opfer auch immer wieder die Frauen sind, wie bei allen Wagner und Verdi-Opern, nebenbei bemerkt. Enttäuscht, geschlagen, belogen, betrogen, ausgebeutet, mißbraucht und nicht selten auch noch ermordet, wenn sie sich nicht selbst umbrachten. Man wundert sich, daß unsere islamistischen „Freunde“ Musik solcher Art und Weltanschauung nicht höher wertschätzen. Stop! Ich nehme diesen bösen Scherz natürlich sofort wieder zurück! Das war der Wotan in mir…
 
Das „Rheingold“ - der Vorabend - ist noch als eine Art phantastisches Märchen, voller Ironie und Witz inszeniert. Streng genommen wird der Mechanismus der Aufführungspraxis griechischen Theaters umgedreht; Schulz bringt das Fröhliche zuerst; danach hört der Spaß auf und es wird zappenduster. Schon in der Walküre, wo Dew in Krefeld noch eine ausgelassene Schneeballschlacht zwischen Wotan und Brünhilde inszenierte, gibt es bei Schulz nichts mehr zu lachen, und selbst, wenn sich die Wände im ersten Akt zu Liebe und Lenz öffnen, dräut dahinter nur schwarze Leere – ein Nichts, der Tod. Da bleibt wenig Raum für wahre Liebe. Ergreifend auch die noch musiklose Eröffnungssequenz, in der Rabenvater Wotan seine zwei Kinder im wilden Wald mit verbundenen Augen à la Hänsel und Gretel zurückläßt.
 
Der Horror schleicht auf leisen Sohlen

Die Oper „Siegfried“, der dritte Teil der Tetralogie, ist eine ganz böse und gerade in dieser Zeit
durchaus realistisch und glaubwürdig in Szene gesetzte Sozialstudie. Vieles erinnert an Hitchcocks "Psycho", denn Psychos sind sie letztenendes alle, die hier auftreten, weil es keine echten Helden mehr gibt. Hat es die je gegeben? Was ist in der geheimnisvollen Kühltruhe, die Mime stets unheilschwanger umschleicht, deren Rätsel aber nicht aufgelöst wird, oder ist es gar kein Rätsel? Schulz produziert Spannung à la John Carpenter in „The Fog“ oder „Halloween“ – der Horror entsteht aus der furiosen, manchmal geradezu erschreckenden Darstellungskunst der Sänger oder einfach nur einer szenischen gut ausgeleuchteten Perspektive. Auch sind wir bei Wagner ja einer Filmmusik recht nahe.
 
Kinder degenerieren ohne die Liebe und das Vorbild der Eltern – da hilft dann auch keine Supernanny mehr, wenn sie zu herzlosen Mördern erzogen werden oder mit dem abgeschlagenen Kopf ihres Onkels Mime Fußballspielen müssen. So bleibt dann ein Hagen von Tronje nicht aus. Doch mildernde Umstände kennt die Inszenierung nicht. Wotan ist in Begleitung zweier wirklich übler Finger unterwegs – alte bekannte; er vernichtet alte Spuren und begleicht auf Mafia Art alte Rechnungen (Mime, Erda, Waldvogel). Doch wie alle Edlen dieser Welt macht er sich selten die Hände selbst schmutzig, dafür hat er seine psychopathischen Schergen Donner und Froh, mangels Erdas Apfelvitaminen nun zu Schlächtern degeneriert. Unfrohe Kerle – Alptraummörder! Lars Creuzburg & Steffen Bärtl sinnieren eine Düsternis und suggerieren ein Bedrohungspotential von einmalig beklemmenden Schrecken. Quentin Tarantino hätte seine Freude an ihnen.
 
Mad Wotan

Die „Götterdämmerung“ zeigt nun folgerichtig das miese Erbe, welches hier den Kindern übereignet wird. Die Welt ist kaputt, Helden und Götter degeneriert – Täuschung, Betrug, Mord und Totschlag beherrschen die Erde bzw. das, was übrig geblieben ist. Hier zitiert Schulz ausgiebig den Weltuntergangstreifen „Mad Max“ mit seinen kaputten Gestalten, und beantwortet ganz nebenbei noch die ungestellte Frage, was aus den Kindern wird, die solche Eltern haben. Hören diese am Anfang noch wie in einer Märchenstunde der Geschichte der drei Nornen friedlich und konzentriert zu, massakrieren sie dann im folgenden Akt schon Grane grauenvoll und werden später sich mit Siegfrieds Blut das Gesicht bemalen. Eine beklemmende Zukunftsvision! Das letzte Herrschergeschlecht, in Gestalt von Gunter & Gutrune, ist durch Inzucht debil verkindlicht. Ein Generalissimus namens Hagen hat das Sagen und die eigentliche Macht. Viel ist nicht geblieben.
 
Ehrlicher Wagner - ohne Mummenschanz

Schulz enttäuscht traditionelle Wagnerklischees, aber nicht so einfallslos und simpel, wie beim so hochgepriesenen Stuttgarter Wagner-Hasser-Ring. Nein, indem er den Text und die Personage ernst nimmt, skelettiert er die Geschichte von unnötigem Brimborium, reduziert falsche epische Breite, und verzichtet auf jeglichen Bühnen-Mummenschanz – übrig bleibt eine Familien-Saga von brennender Spannung, psychopathischer Substanz, beißender Ironie und menschlicher Seelen-Abgründe. Hagens Mannen sind ein derartiger Haufen kaputter Figuren, wie man sie selten auf der Bühne sah; ein wahres Scheckensregiment. Doch ähnlich, wie bei Dew (wo im Finale zum Erlösungsmotiv aus dem Atomdunst der verbrannten Erde sich schließlich doch noch ein kleiner grüner Schößling im letzten Sonnenstrahl nach oben reckt) gibt es auch bei Schulz noch eine marginale Hoffnung vor dem kollektiven Selbstmord. Sie müssen sich also auf dem Nachhauseweg nicht notwendiger Weise erschießen oder zuhause zum Alkoholiker werden…
 
Die mieseste aller Welten öffnet sich, und es ergießt sich ein reinigender Schnürlregen - oder sind es
die Reste des Rheines - über die bisher nur stets gequälten und geschundenen Frauen, jene letzten überlebenden Menschen, die ihre Hände hoffnungsvoll dem erlösenden Licht und Wasser entgegenstrecken. Welch eine Hommage an die Frau! Doch Achtung, das Böse lebt noch: Hagen und Alberich sitzen deprimiert an den Bühnen-Portalen, und im Hintergrund gibt es ja auch irgendwo noch den „advocatus diaboli“ Wotan. Man wird sich von dieser Schlappe erholen.
 
Vollendet durch Michael Schulz

Schulz hat das „ewige Werk“ auf eine Art „vollendet“, die sich einbrennt. Bilder, die bleiben, aus dem Gruselkabinett unseres Lebens. Dabei beantwortete der Regisseur höchst fantasiereich auch Fragen, die bisher keiner stellte, und kittet Brüche, an die wir uns scheinbar gewöhnt haben. Ein unwiderlegbarer Beweis, daß Wagners 16 Stunden-Epos (egal, wie man zum Komponisten Wagner als Mensch steht) das größte Musiktheaterwerk aller Zeiten ist und bleibt.
 
Lange Jahre hat mich eine Opernproduktion nicht so bewegt wie diese! Schön, daß sie nun in ewige Form gepreßt für die Unendlichkeit und für den mitdenkenden Wagnerfan, der seines Meisters Spruch „Schafft Neues, Kinder“ ernst nimmt, als Zeitdokument vorliegt. Bravissimo!

Richard Wagners Ring
 
Rheingold (1 DVD)
Mario Hoff (Wotan), Alexander Günher (Donner) Jean Noel Briend (Froh), Erin Caves (Loge), Thomas Möves (Alberich), Frieder Aurich (Mime) Renatus Meszar (Fasolt), Hidekazu Tsumaya (Fafner), Christine Hannsmann (Fricka), Marietta Zumbült (Freia) Nadine Weissmann (Erda), Silona Michel (Woglinde), Susanne Günther-Dissmeyer (Wellgunde), Christiane Bassek (Floßhilde
 
Die Walküre (2 DVD)
Erin Caves (Siegmund), Hidekazu Tsumaya (Hunding), Renatus Meszar (Wotan) Kirsten Blanck (Sieglinde), Catherine Foster (Brünnhilde) & Christine Hannsmann (Fricka)
Siegfried
 
Siegfried (2 DVD)
Johnny van Hall (Siegfried), Frieder Aurich (Mime), Thomas Möves (Wotan als Wanderer), Mario Hoff (Alberich), Hidekazu Tsumaya (Fafner), Catherine Foster (Brünnhilde), Heike Porstein (Waldvogel) & Nadine Weissmann (Erda)
 
Götterdämmerung (2 DVD)
Norbert Schmittberg (Siegfried), Mario Hoff (Gunter), Tomas Möwes (Alberich), Renatus Mészár (Hagen), Catherine Foster (Brünnhilde), Marietta Zumbült Gutrune) & Nadine Weissmann (Waltraute/Erda)
 
Aufnahme: Deutsches Nationaltheater Weimar, Staatstheater Thüringen, 2008
Laufzeit:  Rheingold 166 min, Die Walküre 237 min, Siegfried 251 min, Götterdämmerung 277 min
 
Label: Arthaus-Musik
Dirigent: Carl St. Clair
Regie: Michael Schulz
Orchester/Chor: Staatskapelle Weimar
 
Bildformat:  16:9 Soundformat: Dolby Digital 5.1
Veröffentlichung:  2009
Untertitel Sprachen NTSC: D, F, GB, I, SP
Das Rheingold (101 353)
Die Walküre (101 355),
Siegfried (101 357)
Götterdämmerung (101 359)
 
Alle Opern gibt es von Arthaus auch im Blue-Ray-Format
 
Weitere Informationen unter: www.arthaus-musik.com