"Wer immer strebend sich bemüht ..."

Der Münsteraner Literaturwissenschaftler Karl-Heinrich Hucke hat eine neue historisch-kritische Ausgabe des "Faust" herausgebracht

Mitteilung der Universität Münster, bearb. v. Andreas Rehnolt
"Wer immer strebend sich bemüht ..."
 
Der Literaturwissenschaftler Karl-Heinrich Hucke
hat eine neue historisch-kritische Ausgabe
des "Faust" herausgebracht
 
Münster - Mancher Literatur- und Theaterwissenschaftler sieht Goethes "Faust" als "deutscheste aller Tragödien", in deren gelehrtem Doktor sich der Nationalcharakter der Deutschen schlechthin spiegele. Privatdozent Karl Heinrich Hucke von der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster sieht das ganz anders. Nicht der Deutschen Ebenbild sei Heinrich Faust, sondern das Ebenbild des Besitzbürgers. Herausgearbeitet hat der Forscher dies in einer historisch-kritischen Ausgabe der Tragödie von 1808, die Anfang August erschienen ist.
 
Vier große Texte gilt es danach zu unterscheiden, wenn man vom "Faust" spricht. Da sei zunächst der "Urfaust", entstanden zwischen 1772 und 1775. Dann "Faust. Ein Fragment", das 1790 erschien, 18 Jahre später erschien "Faust. Eine Tragödie" und 1832 schließlich erschien der zweite Teil des "Faust". Nach Überzeugung von Hucke ist der Urfaust "ein fragmentiertes bürgerliches Trauerspiel." Doch während dort Gut und Böse eindeutig verteilt und durch die Standesschranke gekennzeichnet waren, "ersetzt nun der bürgerliche Libertin in Gestalt des Faust den lasterhaften Adeligen", so der Wissenschaftler, der am Germanistischen Institut der Universität tätig ist.
 
Das Fragment von 1790 verarbeitet dann schon die Erfahrungen der amerikanischen Revolution von 1776 und die der Französischen Revolution von 1789. Erstmals kommen Bürger an die Macht. Vor diesem Hintergrund entwickelt Goethe laut Hucke die Fragestellung weiter, was der Besitzbürger tut, wenn er an die Macht gekommen ist und was dann sein Handeln bestimmt. "Verfolgt er die Moral weiter, die er vertreten hat, so lange er noch keine Staatsämter hatte oder verwandelt er sich, wenn er Macht bekommt?" frage der Dichter. Die Tragödie von 1808 gibt darauf laut Hucke eine eindeutige Antwort.
 
Der neue "Prolog im Himmel", die Wette zwischen Gott und Teufel, läßt sich nach Ansicht des Forschers als Rechtfertigungsideologie des Besitzbürgers verstehen. "Faust redet wie ein Weltbürger, doch er handelt wie ein Besitzbürger", erklärt Hucke. Während an Rhein und Ruhr die ersten Eisenwerke entstanden und sich die Volkswirtschaften grundlegend änderten, schaffte Goethe einen Faust, dessen bürgerliches Denken rein auf den Fortschritt hin definiert war. Während früher Besitz Grund und Boden bedeutete, entwickeln sich nun neue Märkte, denen die extensive Ausbeutung von Mensch und Natur zugrunde liegt. Der Zweck heiligte von da an die  ökonomischen Mittel "und das spiegelt sich im Faust wieder", meint Hucke.
 
Der von ihm herausgegebene Text ist nach Angaben der Universität zum ersten Mal seit 200 Jahren wieder ein authentischer Text. Zuvor sei immer versucht worden, aus den verschiedenen Fassungen einen "glatten" Text zu formen. So, als habe der Geheimrat von Anfang gewußt, was er mit seinem "Faust" gewollt habe. "Dabei gibt es keinen idealen Text, den Goethe im Kopf hatte, als er anfing, sich mit der Faust-Legende auseinanderzusetzen. Goethe hat immer auf die Zeitläufe reagiert und das muß man auch deutlich machen", erklärt der Münsteraner Forscher. Bei seiner historisch-kritischen Neuausgabe hat er nicht die Fassung aus der "vollständigen Ausgabe letzter Hand" von 1828 verwendet, sondern den Erstdruck von 1808, der wegen der Kriegswirren mit erheblichen Verzögerungen erschien. "Offensichtliche Fehler des Setzers sind korrigiert worden, ansonsten habe ich den Erstdruck zu Grunde gelegt, wie er bei Cotta im achten Band von Goethes Werken veröffentlicht wurde", erläutert der Germanist.
 
Die 878-seitige, von Karl-Heinrich Hucke veranstaltete Neuausgabe ist unter dem Titel "Goethe, Faust. Eine Tragödie [1808]" im Münsteraner Aschendorff-Verlag erschienen und kostet 58,- €
Weitere Informationen unter: www.aschendorff.de

Redaktion: Frank Becker