Auseinandersetzung mit dem Bösen

Boualem Sansal - „Das Dorf des Deutschen“

von Jörg Aufenanger
Das Dorf des Deutschen
 
Boualem Sansal war bis 2003 hochrangiger Mitarbeiter im Industrieministerium Algeriens, wurde aber nach dem Erscheinen seines Romans „Erzähl mir vom Paradies“ entlassen. In ihm fantasiert eine Männerrunde in einer Bar Algiers eine Zukunft des Landes fern von Korruption und Terror. In seinem Essay: „Postlagernd: Algier“ wendet sich Sansal drei Jahre später an seine Landsleute, entwirft ein Bild der Diktatur in seiner Heimat, die in ständiger ideologischer und religiöser Berieselung befangen sei und in der Zensur, Folter und Unterdrückung herrsche. Seit diesem offenen Brief sind Sansals in Paris erscheinenden Bücher in Algerien verboten, er selbst wird bedroht, weigert sich aber, das Land zu verlassen.
In seinem neuesten Roman: „Das Dorf des Deutschen oder das Tagebuch der Brüder Schiller“ erneuert er nicht nur seine fundamentale Kritik am Zustand des Landes, sondern zieht gewagte Parallelen zwischen den Methoden der algerischen Polizei, den islamistischen Haßpredigern in den Pariser Vorstädten und den Tätern in den Vernichtungslagern der Nazizeit, was in Frankreich heftige Diskussionen ausgelöst hat.
 
Sansal hat zu seinen Thesen einen Plot konstruiert: Die aus Algerien stammenden Gebrüder Rahel und Malrich Schiller leben in der Pariser Banlieue, haben einen deutschen Vater, der in dem am Ende der Welt gelegenem Heimatdorf Ain-Deb hochangesehen war. Schließlich gehörte er im Befreiungskrieg gegen die Franzosen der FLN an, heiratete die Tochter des Dorf-Scheiks und gestaltete den Ort mit deutschem Ordnungssinn, bis er wie fast alle Dorfbewohner während des Bürgerkriegs 1994 von den Islamisten massakriert wurde.
Rahel sucht das Grab des Vaters auf, entdeckt in dessen Nachlaß einen Koffer, findet in ihm das Soldbuch eines SS-Offiziers, der in den Vernichtungslagern als Experte für die Gaskammern tätig war und sich nach 1945 in Algerien versteckt hielt. Ein Schock für den Sohn, ist er doch plötzlich das Kind eines Kriegsverbrechers. Rahel nimmt als Halbdeutscher die Schuld des Vaters auf sich, stellt sich an seiner statt der Verantwortung und zerbricht daran. Seitdem er den Koffer entdeckt hat, führt er ein Tagebuch bis zum Tag seines Selbstmords durch Gas aus dem Auspuff eines Autos, denn er will sterben wie die Opfer seines Vaters. Das Tagebuch hinterläßt er dem jüngeren Bruder Malrich, der sich nun seinerseits in einem Tagebuch sowohl mit der Schuld des Vaters aber auch mit der für ihn unverständlichen Konsequenz des Bruders auseinandersetzt. So wird der Roman zu einem posthumen Dialog der Brüder.
 
Es ist Malrich, der Parallelen des Bösen zieht. Zeitweise war er in die Fänge der Haß predigenden Imame der Pariser Vorstadt geraten. Deren islamistische Vernichtungsfantasien unterscheiden sich für ihn in nichts von denen der Nazis, und bei einem Besuch in Algerien muß er zudem feststellen, daß die dortige Geheimpolizei handelt, als wäre sie Nachfolger der Gestapo.
Der im Roman stets präsente Autor Sansal läßt Malrich anders handeln als seinen Bruder, er schickt ihn auf den Weg der Erkenntnis, macht ihn aber wie schon den Bruder zum Sprachrohr seiner Ansichten, wenn er sie sagen läßt, das Böse läge unabänderlich im Mark der Menschheit und ihre Geschichte stoße, wie die Sonne in ihren Explosionen überschüssige Energie, von Zeit zu Zeit Haß heraus. Nur der Zufall entscheide, wo der einzelne Mensch sich dabei befinde.
 
Man liest das Buch mit einer Erregung, die nicht nur das anrührende Schicksal der Brüder auslöst. Zugleich ist man unablässig hin- und hergerissen zwischen spontanem Widerspruch und fast klammheimlichem Zuspruch zu den Ansichten Sansals, die er in seinem Thesenroman den Brüdern Schiller in ihre Tagebücher diktiert hat.


Dieser Artikel erschien zuerst in der "Berliner Zeitung"

Redaktion: Frank Becker
Beispielbild

Boualem Sansal
„Das Dorf des Deutschen“
 
aus dem Französischen
von Ulrich Zieger
 
© Merlin Verlag Gifkendorf

278 Seiten,  22,90 Euro
 
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