Die unbekannte Loire als Land der Dichter

Ein poetischer Reisebericht

von Jörg Aufenanger

Jörg Aufenanger

Die unbekannte Loire als Land der Dichter


„Die Loire ist einfach Glück“, meinte der Romancier und Reiseschriftsteller Wolfgang Koeppen. Ich sitze am Ufer des Flusses und lasse mich im blauen Licht der Dämmerung von seiner Gemächlichkeit und Gelassenheit einfangen, denn Eile ins Meer zu münden hat die Loire nicht, und verstehe Koeppens Ausspruch gut.

   Am frühen Morgen in Paris aufgebrochen führt der Weg zur Loire nach Südwesten und kaum hat man die Banlieue hinter sich gelassen, wird man eingefangen von der Anmut der Landschaft und der Intimität französischer Dörfer. Der Literaturliebhaber macht natürlich einen kleinen Umweg, um nach Illiers zu gelangen, wo Marcel Proust bei Tante Leonie seine Kinderferien verbracht hat. Ein winziger Garten führt zum Haus, das fast originalgetreu einschließlich der Möbel erhalten ist, ein Wallfahrtsort für Proustanhänger aus Nah und Fern. Illiers ist als Combray in die Weltliteratur eingegangen, das Proust so liebevoll geschildert hatte, vor allem die Weißdornbüsche seines Onkels, die man auch noch findet, haben ihn beglückt.

   Doch wir fahren weiter und folgen dem Loir, der in die Sarthe mündet, und mit der schließlich in der Loire, wollen nach Vendôme. Auch dort finden wir Ecken, wo man gar nicht auf die Suche nach der verlorenen Zeit gehen muss, scheint sie doch sichtbar an allen Ecken stillzustehen, wenn man die steinernen Waschhäuser am Fluss erblickt oder im Schatten des Hotel du Saillant steht, wo sich der Karzer der Schule befand, die Balzac besucht hat.

   Doch nicht den Spuren des Romanciers wollen wir folgen, sondern denen eines großen in Deutschland kaum bekannten Dichters des 16. Jahrhunderts Pierre de Ronsard, dessen Verse in

Frankreich ein jeder aus der Schulzeit noch kennt. Auch er hat in der von Wasser allseitig umgebenen Stadt gewohnt, zumeist aber lebte und dichtete er im Renaissance-Schloß der Familie „La Possonière“, unweit westlich von Vendôme, wo er auch geboren ist. Wie eine Trutzburg aus dem Spielzeugkasten steht es vor uns und erinnert doch an die große Zeit der Region, als hier die Könige Frankreichs und ihre berühmten Dichter residierten und die auch als das „Jahrhundert Ronsards“ bezeichnet wird. Die Poesie der Landschaft hat ihn wie viele nach ihm zur eigenen Poesie inspiriert, daher ist die Region zwischen dem Loir und der Loire auch Dichterland. Das königliche Schloß von Blois lassen wir nicht gänzlich unbeachtet, hat hier doch der junge Ronsard als Page des Königs gedient und sich in eine junge Schöne verliebt, der er in „Amoren für Cassandre“ unzählige Liebesgedichte gewidmet hat, die ob ihrer Erotik und Frivolität erstaunen und kürzlich endlich auch auf deutsch erschienen sind.

   Doch wir wollen nicht alle königlichen Schlösser, die sich die Loire entlang aufreihen, aufsuchen, sondern die unbekannte Loire erkunden und so fahren wir flussaufwärts, lassen uns aber Zeit wie die Loire selbst sich Zeit nimmt, an uns vorbeizufließen. In Meung-sur-Loire empfängt uns ein Schloss aus dem 13. Jahrhundert, einst Amtssitz der Bischöfe von Orléans und im hundertjährigen Krieg von den Engländern besetzt, bis Jeanne d’Arc die Stadt befreite. Im Verlies des weitläufigen Schlosses hatte man den Dichter Francois Villon, da er in einer Kirche einen silbernen Leuchter gestohlen hatte, eingesperrt. Hier schrieb er sein „Großes Testament“, bevor er von Ludwig XI. amnestiert wurde, als der Meung aufsuchte. Vor allem ist die Stadt in die Literaturgeschichte eingegangen durch Jehan de Meung, der hier geboren wurde und mit dem „Rosenroman“ das bedeutendste Prosawerk der


Chateau de Meung CRT Centre - Y. Wemaere
Mittelalterliteratur Frankreichs geschaffen hat. Nach der gut einstündigen Besichtigung des Schlosses einschließlich des Verlieses zieht uns die Loire wie magisch an und wir setzen uns unter eine der zahlreichen Trauerweiden ans Ufer, sind indes nicht trauriger Stimmung, sondern genießen Ruhe und Anmut des Ortes, bis es zu dunkeln beginnt. Der Goncourt - Preisträger Pascal Quignard hat der Loire und Meung in seinem Roman „Die amerikanische Besatzung“ - die Städte nahe Orléans waren nach 1950 Garnisonsstädte der US- Truppen - ein wunderbares Denkmal gesetzt, hat er doch der Friedfertigkeit der Landschaft die militärische Bedrohung in Zeiten des kalten Kriegs gegenübergestellt.

   Nach einem Abendessen bester französischer ländlicher Küche und einer ruhigen Nacht in einem winzigen Hotel mit freundlichen Gastwirten, geht es am frühen Morgen weiter, als noch dichter Dunst die Loire zu einem Fluss voller Geheimnisse zu machen scheint. Wir lassen Orléans links liegen, wo so viele Dichter von Montaigne und Molière über La Fontaine zu Rousseau, Balzac und Proust zeitweise gelebt und die Stadt beschrieben haben.

Die große Stadt soll mit ihrem Verkehr und Lärm nun nicht in unser Gemüt eindringen, das der Fluss so wunderbar in Gelassenheit versetzt hat. Lieber durchqueren wir erst die Heidelandschaft und dann den dichten Wald der Sologne, und da Frühsommer ist, genießen wir danach im Posthof von Combreux zartesten Spargel und als Dessert tiefrote köstliche Erdbeeren mit Chantilly. Wir glauben dem Wirt aufs Wort und unserem Gaumen auch, wenn er behauptet, der Spargel der Sologne wäre nicht nur der beste Frankreichs sondern ganz Europas.

 Doch wir wollen schnell wieder zur Loire, zum Fluss des puren Glücks, erreichen eine seiner


Basilique de Saint Benoit CRT Centre - C.Mouton
zahllosen Windungen bei Chateauneuf-sur-Loire, wo ein Museum uns davon erzählt, wie einst die Schiffer die Loire hinauf und hinab gesegelt sind oder die Boote von Menschen mit Tauen gezogen wurden. Weiter Fluß hinauf geht es nach Saint-Benoit. Imposant erhebt sich über der Loire, die hier gerade einmal knietief Wasser führt, die Basilika, die als schönster romanischer Bau Frankreichs gilt. Ihr gedrungener eckiger Bau scheint durch zahlreiche Rundbauten in die Schwebe gebracht und wird von einem zierlichen Turm gekrönt. Wir hatten davon gelesen, daß an einigen Kapitellen antiislamische obszöne Spottfiguren aus der Zeit der arabischen Bedrohung Mitteleuropas zu sehen seien und tatsächlich finden wir sie, sehen, wie die arabische Frau als nackte Hure dargestellt wird, die danach giert, penetriert zu werden.

   In das Kloster von Saint Benoit hatte sich Frankreichs bedeutender Avantgarde-Dichter Max Jacob schon früh zurückgezogen, nachdem er vom Judentum zum Christentum konvertiert war. Hier verfaßte er in seiner Zelle zwischen den Gebeten Verse und Prosagedichte. 1943 besuchte Pablo Picasso ihn im Kloster, als Max Jacob, wie ein Photo im ihm gewidmeten Museum zeigt, den Judenstern tragen mußte, obwohl er Katholik war. Wenig später wird er, als er aus der Messe kommt, von der Gestapo arretiert und ins Lager von Drancy bei Paris verschleppt, wo er im März 1944 stirbt. Die Loire ist also nicht nur ein Fluss des Glücks, sie hat in allen Zeiten auch manch Unglück gesehen.  

   Wir unternehmen noch einen Abstecher nach Sully, finden dort ein Schloss, das mit seinen Wehrgängen einer mittelalterlichen Festung gleicht und nicht den Glanz der Königsschlösser besitzt. Es war zwar auch Sitz der Herzoge, diente aber auch lange als Gefängnis. Auf dem Rückweg nach Paris durchfahren wir das Gâtinais, wo heute wieder der Safrananbau blüht, gelangen nach Montargis, das wasserumgeben mit seinen Kanälen ein wenig Venedig spielt, doch die Idylle verschweigt, das es hier 1939 auch ein Internierungslager für deutsche Exilanten gab. Nichts erinnert daran.
Vor den Toren von Paris hat uns das Heute schnell wieder, nachdem wir an der Loire eine Zeit ohne Zeit genossen haben.


© Jörg Aufenanger


Informationen zur Loire:

www.franceguide.com/de/loiretalderschloesser

Region Loiretal der Schlösser / Région Centre-Val de Loire


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Zeppelinallee 37

D-60325
Frankfurt am Main
Maison de la France Tel. 09001- 570025


Literatur :
Pierre de Ronsard : « Amoren für Cassandre» Elfenbein-Verlag
Pascal Quignard : „Die Amerikanische Besatzung“ Aufbau-Verlag
Wolfgang Koeppen: „Reisen nach Frankreich“ Suhrkamp-Verlag
Max Jacob: „Der Würfelbecher“  Suhrkamp-Verlag
Claudio Lange: „Der nackte Feind –Antiislam in der romanischenKunst“ Parthas- Verlag