Mammuts und Flötentöne - die älteste Kunst der Menschheit

"Eiszeit - Kunst und Kultur"

von Friederike Hagemeyer
Mammuts und Flötentöne  - 
die älteste Kunst der Menschheit
 
Kunst und Kultur der Eiszeit
in Südwestdeutschland
 

Wir sind es gewohnt, künstlerische Erzeugnisse früher Menschen mit entfernteren und vor allem wärmeren Gefilden in Verbindung zu bringen als ausgerechnet mit dem kühlen Mitteleuropa. Daß diese landläufige Annahme grundfalsch ist, das führt uns der im Herbst 2009 im Verlag Jan Thorbecke erschienene großformatige Band „Eiszeit – Kunst und Kultur“ vor Augen. Denn die ältesten Musikinstrumente und die frühesten figürlichen Plastiken der Menschheit stammen aus einer Zeit, in der die Jahresdurchschnittstemperatur zwischen – 5° und + 5° Celsius schwankte (zum Vergleich: 1990 liegt das deutsche  Jahresmittel  bei + 8,3° Celsius) und sie entstehen direkt vor unserer Haustür, in den Karsthöhlen der Schwäbischen Alb; dort überdauern sie in Ablagerungen und Schutt bis zu 40.000 Jahre.
Wie sieht die Welt dieser frühen Künstler aus? Wie leben sie? Und wer sind sie eigentlich?
 
Beständiger Wechsel
 
Die letzte Warmzeit liegt etwa 120.000 Jahre zurück. Vor 65.000 Jahren haben sich die skandinavischen Gletscher bis fast an die Mittelgebirge ausgebreitet, England ist von Eis bedeckt. Es ist die Zeit der Neandertaler, die von 300.000 bis etwa 30.000 Jahren vor heute in Europa leben. Vor etwa 40.000 Jahren tauchen im Südwesten Deutschlands die ersten kleinen Schnitzereien aus Mammutelfenbein auf. Menschliche Artefakte lassen sich bis etwa 25.000 Jahre vor heute in dieser Gegend nachweisen. Dann wird es wieder kälter; vor ca. 20.000 Jahren erreicht das nördliche Eis zum zweiten Mal seine größte Ausdehnung nach Süden, die Region um Berlin beispielsweise ist von Eis bedeckt.  Die Menschen ziehen sich aus ihrem Lebensraum (etwa da, wo jetzt der Südwesten Deutschlands ist) zurück. Erst etwa 10.000 Jahre später mit Beginn einer neuen bis heute andauernden (vorläufigen?) Warmzeit  - die Gelogen bezeichnen sie als Holozän -  wird der südwestdeutsche Raum langsam wieder besiedelt.
Das Klima der 10.000 bis 15.000 Jahre, in denen die Eiszeitkünstler in unseren Breiten leben, ist von außerordentlich starken Schwankungen geprägt, die sich z.T. in wenigen Jahrzehnten abspielen. Immer wieder und manchmal sehr kurzfristig müssen sich unsere Vorfahren auf sich wandelnde Umwelt- und Lebensbedingungen einstellen; vor allem aber sind sie gezwungen, sich dem häufig wechselnden Nahrungsangebot zu stellen. In den offenen Steppen jagen sie Mammuts, Pferde und Rentiere, sie stellen Kleinsäugern nach, fangen Fische in Flüssen und Seen, sammeln Vogeleier und ergänzen diese Nahrung mit eingesammelten Früchten und Beeren, Wurzeln und Samen. Sie leben in Höhlen, unter Felsüberhängen und in Zelten aus Tierhäuten. Vor dieser Kulisse entstehen die frühesten Musikinstrumente und die ersten figürlichen Schnitzereien der Menschheit.
 
Schwäbische Kleinkünstler
 
Schlagartig sind sie da, die kleinen ausgereiften Kunstwerke aus Mammutelfenbein; von Anfang an
zeugen sie von höchstem Können. Weder sind Vorläufer noch allmähliche Entwicklungen auszumachen, die auf diesen künstlerischen Höchststand hinführen könnten. Aber wer sind die Schöpfer dieser Kunstwerke? Nicholas J. Conard, Chefausgräber in den Höhlen der Schwäbischen Alb, spricht von „kulturell modernen Menschen“, die die geistigen Voraussetzungen für derartige Werke mitbringen. Die Funde sprechen dafür, daß es anatomisch moderne Menschen (Homo sapiens sapiens) sind, die vor etwa 40.000 Jahren einwandern und Zeugnisse ihrer neuen Kultur schaffen  -  oder auch mitbringen? Daß auch Neandertaler (Homo sapiens neanderthalensis) zu künstlerischem Gestalten fähig waren, ist nicht auszuschließen, aber die Funde in der Schwäbischen Alb sprechen dagegen.
Winzig klein sind die Figürchen aus Mammutelfenbein: z.B. ein Pferdekopf von 3,6 cm Länge, ein (fliegender?) Wasservogel von 4,7 cm, ein Höhlenlöwe von 9 cm oder ein aufrecht stehender Höhlenbär von 5 cm Länge. Der Star im Eiszeitzoo ist eine komplett erhaltene Vollplastik eines Mammuts, ganze 3,7 cm ist es lang. Es wird bei einer Nachgrabung in der Höhle Vogelherd entdeckt.
2008 dann der Paukenschlag: im Schutt des „Hohle Fels“ wird die „schwäbische Eva“ (in Bruchstücken) gefunden. Kaum 6 cm hoch wirft die vollplastische Frauenfigur  -  sie hat anstelle des Kopfes eine Öse  -  mit ihrem Alter von fast 40.000 Jahren alle bisherigen zeitlichen Annahmen zur Entwicklung figürlicher Kunst über den Haufen. Nach neuestem Wissensstand ist die „Venus vom Hohle Fels“ die weltweit älteste menschliche vollplastische Figur. Ihre berühmte, etwa 5.000 Jahre jüngere österreichische Schwester, die „Venus von Willendorf“, hat ihren Spitzenplatz räumen müssen.
 
Eiszeitmusik
 
Weniger als einen Meter von der „Schwäbischen Venus“ entfernt wird 2008 bei derselben Grabung im „Hohle Fels“ ein weiterer Sensationsfund geborgen: eine Knochenflöte (in 12 Teilen) mit fünf erhaltenen Grifflöchern, hergestellt aus dem Flügelknochen, der Speiche, eines Gänsegeiers. Sie ist 21,8 cm lang und mit ihren ca. 35.000 Jahren, das älteste Musikinstrument der Menschheit. Bereits früher waren in den Höhlen der Schwäbischen Alb kleinere Flöten und Flötenbruchstücke gefunden worden; sie sind deutlich jünger und wurden aus der Speiche von (Sing?-) Schwänen hergestellt. Als Besonderheit gilt eine Flöte aus Mammutelfenbein, ein Material, das sehr viel schwieriger zu bearbeiten und im Grunde für die Herstellung einer Flöte ungeeignet ist. Die Instrumente kommen in den Höhlen häufig mit „ganz normalem Abfall“ des täglichen Lebens vor, deshalb liegt der Schluß nahe, daß Flötenmusik nicht nur zu rituellen Anlässen erklang, sondern das Musizieren auch im Alltag der Eiszeitmenschen eine wesentliche Rolle spielte.
 
Prachtband mit aktuellem Forschungsstand
 
Konzipiert als Begleitband zur großen baden-württembergischen Landesausstellung „Eiszeit – Kunst und Kultur“ im Herbst 2009 in Stuttgart dokumentiert das Werk aus dem Thorbecke Verlag den aktuellen Wissens- und Forschungsstand zur Archäologie der Jüngeren Altsteinzeit (Jungpaläolithikum) Südwestdeutschlands. Die Beiträge, verfaßt von ausgewiesenen Fachleuten, reichen zeitlich vom Beginn der Eiszeit bis zum Beginn unserer nacheiszeitlichen Warmzeit. Sie thematisieren die Lebenswelt der „Eiszeitschwaben“ von der Pflanzen- und Tierwelt, über Jagdwaffen und Jagdmethoden, Werkzeuge und ihre Herstellung bis hin zu ihren religiösen Vorstellungen, ihrem Alltag und ihren „Wohnverhältnissen“. Der Vergleich mit west- und osteuropäischen Funden fehlt ebensowenig wie die Darstellung neuester Grabungs- und Untersuchungsmethoden der Archäologie. Brillante Fotografien sind dem Band beigegeben, die gerade bei der Winzigkeit der Kunstwerke besonders anschaulich wirken. Leider fehlen bei den Bildunterschriften oft die Größenangaben der Originale; im zugehörigen Text sind sie nicht immer leicht zu finden. Karten und Zeichnungen erläutern die Texte und machen sie für den Laien lebendig. Der Anhang bietet aktuelle weiterführende Literatur sowie ein hilfreiches Glossar. Leider ist die unerläßliche Zeittafel sehr versteckt im Anhang (S. 384) untergebracht, man hätte sie sich ausführlicher und an prominenterer Stelle gewünscht.
Der Gesamteindruck das Bandes wird dadurch jedoch kaum geschmälert, handelt es sich doch um ein gelungenes Werk, das gerade auch demjenigen zu empfehlen ist, der die Stuttgarter Ausstellung nicht besuchen konnte. Bedauerlicherweise ist der Titel bereits vergriffen, dem Verlag wird deshalb eine Neuauflage dringend ans Herz gelegt, in der die wenigen monierten Unzulänglichkeiten bereinigt sind.
 
 
Eiszeit : Kunst und Kultur ; Begleitband zur Großen Landesausstellung Eiszeit - Kunst und Kultur im Kunstgebäude Stuttgart, 18. September 2009 - 10. Januar 2010, hrsg. vom Archäologischen Landesmuseum Konstanz, Red.: Susanne Rau
© 2009 Thorbecke  Ostfildern, 396 S. , geb., zahlr. Farbige Abb.. ; 30 x 24 cm
ISBN 978-3-7995-0833-9 
34,- € - 54,90 sFr

Weitere Informationen unter:
www.thorbecke.de  und  www.konstanz.alm-bw.de

Redaktion: Frank Becker