Psychogramm einer Zeit

Dirk Schröters "Das Fußballwunder von Bern" in Essen

von Frank Becker
Das Fußballwunder von Bern
Theaterstück von Dirk Schröter
 
Psychogramm einer Zeit
 
Regie: Dirk Schröter – Bühne: Zoltan Labas – Kostüme: Gizelle Koppany – Licht: Rolf Spahn – Choreographie: Christiane Milenko – Fotos: Bodo Kürbs
Besetzung: Hennig Schimke (Helmut Rahn, ca. 60) - Armin Sengenberger (Helmut Rahn, ca. 25) – Jan Opderbeck (Matthes Spyri) – Hans Machowiak (Fritz Walter) – Roland Avenard (Sepp Herberger) – Bettina Dornheim (Ingrid) – Stephan Bürgi (Hempel) – Esther Leiggener (Heidi / Junge Ingrid / Italia) – Alexander Abramyan (Portier / Schiedsrichter / Puskás / Techniker)
 
„Der Ball fällt mich vor die Füße, jenau auf’m rechten. Un in die Sekunde wußt ich jenau, wat jetz passiert. Die zwei Ungarn, der Lorant un der annere, stürzen sich auf mich zu. So richtig mit Jewalt. Ich laß se kommen und zieh dann die Kirsche schnell von’n rechten auf’n linken Fuß. Und da, Mann, ich seh et noch wie heute, hab ich dat janze Gelände vor mir. Keine 20 Meter von’n Tor weg, inner Position von den Halbrechten, und der Grosics steht akkurat so, dat in seine Ecke Platz is. Ich zieh ab mit den linken Fuß, und dat jibt so’n richtig jefährlichen Aufsetzer. Un wat dann passiert is, dat wißt ihr ja.“
(Helmut Rahn)
 
Wiedergeburt einer Nation

Helmut Rahn - Foto: Theater im Rathaus
 
Es war beinahe die Wiedergeburt einer Nation, als die deutsche Fußballnationalmannschaft am 4. Juli 1954 im Wankendorf-Stadion von Bern in einem dramatischen Spiel die favorisierte Mannschaft der Ungarn mit 3:2 besiegte und mit dem Jules-Rimet-Pokal die Weltmeisterschafts-Krone errang. Unvergessen für alle, die im Stadion, am Radio oder vor den wenigen Fernsehschirmen dieser Zeit dabei waren, Legende für alle Fußballgenerationen, die seitdem gefolgt sind. So wundert es auch nicht, daß auch der Kader der Mannschaft von Schwarz-Weiß Essen (Amateur-Oberliga) bei der Essener Premiere von Dirk Schröters Stück „Das Fußballwunder von Bern“ samt Trainer im vollbesetzten Saal des Theaters im Rathaus saß. Und bemerkenswert war, auch von den Damen im Publikum bemerkt, daß ein beachtlich hoher Anteil männlicher Zuschauer der Generation „Ü 65“ gekommen war, ein Klientel, das sich sonst eher bei Theaterpremieren rar macht, falls nicht die Frau Gemahlin als treibende Kraft dahinter steht. So war auch während der Aufführung manch der Gattin gewidmeter sachkundiger Kommentar zum Thema Fußball und der WM 1954 in der Schweiz zu vernehmen. Am Rande bemerkt: Rot-Weiß Essen fehlte. Die hatten am nämlichen Abend ein Spiel, wie aus informierten Kreisen zu erfahren war.
 
Dokumentation einer Legende
 
Dirk Schröter hat aus der Fußball-Legende von 1954 ein Drama mit Dokumentations-Charakter
gemacht, das mit hervorragendem Zeitkolorit ausgestattet und blendend besetzt, im Jahr einer anstehenden neuen Fußball-WM auf besonders fruchtbaren Boden fällt. Das Theater „Thespiskarren“ aus Hannover hat den Entwurf Schröters mustergültig umgesetzt und ein Spiel auf die Bühne gebracht, das sich um die Zentralfigur des Fußballers Helmut Rahn (1929-2003) von Rot-Weiß Essen rankt. Rahn, damals rechter Außenstürmer mit dem Spitznamen „Der Boss“, war einer der 22 „Helden von Bern“, der Mann, der in der 84. Minute das entscheidende dritte Tor für Deutschland erzielte. Rahn war aber auch eine tragische Figur, ein Sportler, der an dem Erfolg zerbrach, dessen Sport-Karriere nach diesem grandiosen Höhepunkt unentwegt bergab ging. Noch einmal konnte er 1958, unmittelbar aus dem Gefängnis kommend, wo er wegen Trunkenheit und Widerstand einsaß, bei der WM in Schweden seinen Rang mit sechs Toren belegen, dann wurde es still um ihn. Rahn schwieg, wollte nichts mehr sagen. Anders als Fritz Walter (1920-2002), der bis ins hohe Alter der Vorzeigesportler der Nation war, wollte Rahn vergessen werden – eine bemerkenswerte Parallele zu dem genialen Kabarettisten Wolfgang Neuß.
 
Helmut Rahn – ein gebrochener Charakter
 
In Dirk Schröters Theaterstück wird Rahn noch einmal durch den Schauspieler Henning Schimke

Henning Schimke ist Helmut Rahn - Foto © Bodo Kürbs
lebendig. Kantig, ruppig, unzugänglich, schließlich noch ein letztes Mal bereit über „das Tor“ zu reden, das sein Leben für immer verändert hat. Henning Schimke gibt den ca. 60 Jahre alten Rahn tief beeindruckend als gebrochene Figur, doch sympathisch, im Wechsel mit Armin Sengenberger, der dem aufbrausenden, leichsinnig jungen Rahn von 25 Jahren achtbar Gestalt verleiht. Schimke aber gehört der Abend, er ist Helmut Rahn und wird vom Essener Publikum als Verkörperung des Jungen aus Essen-Katernberg angenommen. Mit in der Mannschaft, um beim sportlichen Terminus zu bleiben, sind Hans Machowiak als Mannschaftskapitän Fritz Walter, Roland Avenard (besonnen) als Trainer Sepp Herberger, der „Chef“ (1897-1977), Jan Opderbeck (zu aggressiv) als Journalist Matthes Spyri, der aus persönlichen Gründen Rahns Geschichte recherchiert, Stephan Bürgi (hervorragend skizziert) als DDR-Korrespondent Hempel, Esther Leiggener (charmant) als Heidi, Rahns Schweizer Gspusi, seine Frau Ingrid (in jungen Jahren) und Italia, Walters Frau, Bettina Dornheim als ältere Ingrid und Alexander Abramyan als Portier / Schiedsrichter / Puskás / Techniker.
 
Zeitkolorit und Herberger-Sprüche
 
Man kann getrost konstatieren: eine bestens eingespielte, von Dirk Schröter perfekt geführte und von

v.l.: Schimke, Armin Sengenberger, Hans Machowiak - Foto © Bodo Kürbs
Christiane Milenko choreographierte Mannschaft, die auf mehreren zeitlichen Ebenen teils separat, teils nebeneinander agierend, mal in Essen-Frohnhausen in Ingrids Kneipe, mal im Hotel Belvedere in Spiez, wo Rahn und Walter sich ein Zimmer teilten, dann wieder in den Stadien mit packenden Fußballreportagen die Spannung durchweg auf hohem Niveau hält. Essener Lokalkolorit und Zeitgeist fließen geschickt ein, wenn aus der Musikbox „Diplomat“ (die stammt allerdings aus dem Jahr 1957) die Schlager der Zeit klingen „Es liegt was in der Luft“, „O mein Papa“ und „Heut ist ein Feiertag für mich“.
Sepp Herbergers Allgemeingut gewordene Aussagen „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ und „Das nächste Spiel ist immer das schwerste“ sind natürlich ebenso eingeflossen wie seine lange umstrittenen Spieltaktiken um Gewinnen und Verlieren, die schließlich zum Endspiel gegen den Angstgegner Ungarn geführt haben.
 
Die politische Seite
 
Schröter hat auch die politische Facette nicht außer Acht gelassen: mit dem DDR-Sportreporter Hempel tritt auch das andere Deutschland auf den Plan, das genau ein Jahr nach dem Volksaufstand des 17. Juni 1953 zwar nicht an der WM teilnimmt, aber Herberger mit einer NS-Vergangenheit zu desavouieren versucht und sogar im Sport den Klassenkampf probt. Stephan Bürgi gibt mit seinem Hempel hinreißend einen nicht einmal unsympathischen Wendehals, der zum guten Ende mit der deutschen Mannschaft fiebert, die gar nicht „seine“ sein darf. Als 1954 zum ersten Mal wieder auf internationalem Parkett die deutsche Nationalhymne gespielt wurde, standen die Zehntausende Deutschen in den Schweizer Stadien auf und sangen die seit 1945 verpönte erste Strophe des Deutschlandliedes. Das geschah beim ersten Spiel am 17. Juni 1954 in Bern und im selben Stadion am 4. Juli 1954, wie auf historischen Mitschnitten zu hören ist – und es war das Aufatmen einer atemlos gewordenen Nation. Gänsehaut. Was ebenfalls Gänsehaut verursachte und natürlich auch nicht ausgelassen wurde, war die Rundfunkreportage des deutschen Sportkommentators Herbert Zimmermann beim Endspiel, durch die er mit ihr unsterblich geworden ist „Aus, aus, es ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“
Dirk Schröters Stück erfaßt und würdigt das alles. Dafür den Musenkuß und eine Empfehlung der Musenblätter.
 
Das Stück wird in Essen noch bis zum 23.3.10 (außer Sonntag, 21.3.) en suite gegeben. Am 14. März gibt es um 18.00 Uhr ein "Vorspiel".
Weitere Informationen: www.theater-im-rathaus.de  und: www.ruhrig.de
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