Die Poesie des Reisens

Ein Foto von Klaus Bech-Andersen zu einem Text

von Hans Christian Andersen

Foto © Klaus Bech-Andersen 


Über die Poesie des Reisens

I
ch habe verschiedentlich sagen hören, daß durch die Eisenbahnen alle Poesie des Reisens verschwunden sei und man am Schönen und Interessanten vorbeijage. Was letzteres betrifft,  steht es ja einem jeden frei, auf jeder beliebigen Station zu verweilen und sich da umzusehen, bis der nächste Zug anlangt; und betreffs der Behauptung, daß alle Reisepoesie schwindet, bin ich vollständig entgegengesetzter Meinung. Gerade in den engen, überladenen Kutschen verschwindet die Poesie, man stumpft ab. In der besseren Jahreszeit wird man von Schmutz und Hitze geplagt und im Winter durch schlechte Wege; die Natur erlebt man hier nicht, wohl aber auf der Fahrt im Dampfwagen. Welches erhabene Werk des Verstandes ist doch diese Erfindung! Man fühlt sich mächtig wie ein Zauberer der Vergangenheit! Wir spannen unser magisches Pferd vor den Wagen und der Raum verschwindet; wir fliegen wie die Wolken im Wind, so wie es der Zugvogel tut; unser Pferd wiehert und schnaubt, der Dampf steigt aus seinen Nüstern auf. Schneller konnte Mephisto mit Faust nicht auf seinem Hute fliegen! Wir sind durch die Mittel in unserer Zeit ebenso gewaltig, wie man es im Mittelalter nur mit Hilfe des Teufels sein konnte! Wir haben ihn durch unseren Verstand eingeholt, und ehe er es selber ahnt, sind wir schon an ihm vorbeigebraust.


Hans Christian Andersen (1805-1875)

Redaktion und Textfassung: Frank Becker