Aufgebung

Karl-Heinz Ott - "Endlich Stille"

von Robert Sernatini
Aufgebung
 
Ich lasse das Schicksal los.
Es wiegt tausend Milliarden Pfund;
Die zwinge ich doch nicht, ich armer Hund.
 
Wie's rutscht, wie's fällt,
Wie's trifft - so warte ich hier. -
Wer weiß denn vorher, wie ein zerknittertes Zeitungspapier
Weggeworfen im Wind sich verhält?
 
Wenn ich noch dem oder jener (zum Beispiel dir)
Eine Freude bereite,
Was will es dann heißen: »Er starb im Dreck«? -
Ich werfe das Schicksal nicht weg.
Es prellt mich beiseite.
 
Ich poche darauf: Ich war manchmal gut.
Weil ich sekundenlang redlich gewesen bin. -
Ich öffne die Hände. Nun saust das Schicksal dahin.
Ach, mir ist ungeheuer bange zumut.
 
 
Joachim Ringelnatz


Ein Drama

Karl-Heinz Otts zweiter Roman "Endlich Stille" ist keine aktuelle Neuerscheinung. Seit seiner ersten Auflage 2005 hat das Buch jedoch etliche Erfolgsauflagen erlebt. Wer es je in die Hand bekommen hat und wie magisch in den seelischen Strudel der Protagonisten hineingezogen worden ist, weiß auch warum. Das 2007, also zwei Jahre darauf folgende Hörbuch (Bernd Geiling hat den Roman gelesen - Regie und Textfassung Brigitte Landes) ist angesichts der Schnellebigkeit unserer Zeit, sollte man annehmen, nahezu von Neuerem überholt worden. Notabene nahezu - denn ein solch kongeniales Duo wie Otts Roman und die Lesung Geilings verdient nicht nur, im Gedächtnis behalten zu werden, es muß als Standard der Literatur und ihrer Rezeption manifest gemacht werden. Was hier geschehen soll.

Selten erlebt man Gefühle, Ängste, Haß und Hilflosigkeit so intensiv mit, wie bei diesem in äußerster Zurückhaltung von Bernd Geiling gelesenen Roman. Vielleicht ist es ja auch gerade die brüchige, fast lähmende Ruhe der Interpretation, die den Adrenalinspiegel beim Hörer ebenso in die Höhe treibt, wie es
die Lektüre des Buches mit dem Leser tut. Ich habe beides getan, gelesen und gehört - und werde es wieder tun - beides. Ich werde es tun, um an der Schwäche zweier Menschen zu erstarken, zweier Männer, die sich bis zum fatalen Ende einem mörderischen Chaos ausliefern. Ich werde es tun, um mich an der ungeheuren psychologischen Tiefe der Erzählkunst Karl-Heinz Otts zu erbauen, an der Konsequenz, mit der er seinen Ich-Erzähler - Philosophie-Professor der Baseler Universität - der vereinnahmenden Aufdringlichkeit eines Fremden erliegen läßt, des angeblichen Musikers Friedrich Grävenich, der völlig distanzlos parasitär in sein Leben eindringt, es völlig an sich zu bringen droht. Spinozas Gedanken zum Ausschluß der Willensfreiheit, das Fachgebiet von Otts Romanfigur, spielen durchaus eine wichtige Roille dabei. Ich werde dieses Buch wieder lesen und hören, um von Herzen eine Frau zu hassen, die um vieles hassenswerter ist als Grävenich, Marie nämlich, die aus der scheinbaren Position einer Nebenrolle durch ihre Selbstgerechtigkeit und Arroganz die eigentliche Zerstörerin des Erzählers ist - und deren Einfluß sich dieser ebensowenig entziehen kann. Ich werde das wieder anhören und mit Genuß lesen, um noch einmal die betäubenden, ungeheuren Räusche in Knochen und Schädel zu spüren, die unser hilfloser Philosoph erduldet, in die er sich verzweifelt stürzt und die Karl-Heinz Ott so quälend, so fürchterlich gut beschreibt. Ich werde - obwohl ich dann längst weiß, wie unser Freund schließlich den endlosen Suaden Grävenichs entkommt, wie sich das Blatt wenden wird und wie die ersehnte Stille ohne reinigendes Gewitter eintritt - noch einmal darauf zu fiebernd den Weg am Abgrund - nicht nur an einem - verfolgen. Daß die Stille eintreten wird, wissen wir vom ersten Satz an: "Endlich Stille. Nur Bussarde über mir. Beim Hinabsteigen das Geräusch von Geröll. Es klang, als möchte es ihm nachfolgen."

Sie sehen, es gibt viele Gründe, Karl-Heinz Otts Roman "Endlich Stille" in jedweder
Form der Darreichung zu konsumieren, seine Sprache, seine opulente Erzählkunst zu genießen und sich in die Charaktere der Geschichte zu vertiefen - wohl merkend, daß nicht viel mehr schafft, als an der Oberfläche zu kratzen. Ott gibt mit seinen Figuren und dem Ende des Romans eine raffinierte Denkaufgabe an die Hand. Sollten Sie übrigens je mit dem Zug in Straßburg ankommen und vor dem Bahnhof von einem Herrn angesprochen werden: wenden Sie sich rasch ab und verlassen den Platz schnell und in die entgegensetzte Richtung.

Karl-Heinz Ott "Endlich Stille" -
© 2007 Hoffmann & Campe, Ein Hörbuch, gelesen von Bernd Geiling, 4 CD, Gesamtzeit: 4:15:34  -  22,95 €
Karl-Heinz Ott "Endlich Stille" - © 2005 Hoffmann & Campe, Roman, 207 Seiten, geb.,
17,95 €

Weitere Informationen unter:  www.hoca.de

Redaktion: Frank Becker