Haltet den Dieb oder Die Enttäuschung des Voyeurs

Rede zur Eröffnung der Ausstellung: Eva Bertram „2 Ein Kind“ Galerie zone-b, Berlin 7. Mai 2010

von Andreas Steffens
Andreas Steffens
 
Haltet den Dieb oder Die Enttäuschung des Voyeurs
 
Rede zur Eröffnung der Ausstellung: Eva Bertram „2 Ein Kind“
Galerie zone-b, Berlin 7. Mai 2010
 
 
Vorgesehen hatten wir, von dem etwas angestaubten Ritual der ‚Eröffnungsrede’ einmal abzusehen; stattdessen sollte, und wollte, ich einige Gedanken zum Thema ‚Kindheit’ vortragen, zu denen die beiden Künstlerinnen dieses Fotokunstwerkes „2 Ein Kind“ mich brachten.
Nun finden wir uns aber auf befremdende Art mit einer so nicht erwartbar gewesenen ‚Aktualität’ des Themas konfrontiert, dass wir beschlossen, von der Abweichung noch einmal abzuweichen. Einige Bemerkungen über laut gewordene, stärker aber versteckt und verdrückt sich regende ‚Kritik’, sind fällig geworden. Einer Kritik, wie sie sich in dem Gästebuch, das die bisherigen Stationen der Präsentation dieses Werkes begleitete, ebenso scham- , wie hemmungslos auslässt.
Das dieser Tage wohl am häufigsten in der Öffentlichkeit benutzte Wort dürfte ‚Mißbrauch’ sein. Die von ihm geprägte Stimmungslage hat die Falle, die ohnehin im Thema lauert, noch ein zweites Mal aufgestellt. So sehr, dass eine unvoreingenommene ästhetische Wahrnehmung, von der eigentlich bei dieser Gelegenheit die Rede sein sollte, durch ein Moralisieren der schlechtesten Art verdrängt wird.
Es bietet sich dar in überraschend reiner Form eines der erstaunlichsten Phänomene kultureller Wahrnehmungen: der Blindheit für das Offensichtliche. Der Fluch der Wiederholung zeugt immer und immer wieder eine sekundäre Blindheit. Alles ist schon da gewesen, alles ist irgendetwas noch einmal. Mit halbem Blick (un)erfasst, und abgetan. Man kennt sich aus. Themen, Kommentare, Überzeugungen haben schon erfasst, was noch gar nicht hervortrat, und es durchschaut, ohne hingesehen zu haben. Derart konditioniert, bestätigt das öffentliche Halbbewusstsein, das auch im gedruckten Kommentar stets private Meinung bleibt, ohne Kritik zu werden, sich durch blindes Wiedererkennen.
Aber Hinsehen reicht nicht, um etwas zu sehen. Nicht blind zu sein, reicht nicht hin, zu sehen. Für den ikonologisch geschulten ästhetischen Theoretiker ist das ein vertrautes Phänomen, und für den Künstler nicht weniger, setzt jede Bildkunst doch gerade hier an, in der Lücke zwischen Sehen und Wahrnehmen des Gesehenen. Einmal entstanden, ist die wesentliche Aufgabe eines Bildkunstwerkes die Schulung des Auges durch die Wahrnehmung eines gestalteten Blicks.
     Man muß bereit sein, nicht wiederzuerkennen. Bereit sein zu der Anstrengung einer bewussten Neutralität des Blicks. Dann hat man die Chance, das, was sich einem darbietet, als das wahrzunehmen, was es ist, statt als etwas, das als zugerichtetes Objekt vorgefertigter Wahrnehmung als etwas erscheint, was es nicht ist. Die Ungeduld des Auges, und die Trägheit des gesättigten Bewusstseins verschwören sich zur Scheinwahrnehmung von etwas, das es nicht gibt, anstelle der Ansicht des Dargebotenen.
     Diesem Fluch ist unter den Bildkünsten die Fotografie am stärksten ausgesetzt. Fast nichts, das ein Foto zeigt, von dem ein Betrachter nicht überzeugt sein könnte, es zu ‚kennen’, weil er es schon einmal gesehen hat.
     Seit der Kindmann Lewis Carroll seine Mädchenphantasien fotografisch inszenierte, ist die Fotografie des weiblichen Kindes und Jugendlichen in untrennbarem double-bind ebenso erotisch wie moralisch abwehrend konditioniert. So gewaltsam fixiert, dass der vorbereitete Blick bei der geringsten Assoziation erblinden, und nicht mehr sehen will, was zu sehen ist.
     Wo es ästhetisch nichts zu bemängeln gibt, muß die Moral herhalten, um den ablehnenden Affekt zu rationalisieren. Das Bewusstsein dankt ab, indem es das Gefühl übergeht, das seine Äußerung dann umso massiver ungestört bestimmen kann. Erblindet, imaginiert das Auge der moralischen Empörung nur noch ‚Lolita’ und ‚Mißbrauch’.
Dabei ist von alldem in diesen Bildern nun wirklich nichts zu sehen; wer es zu sehen vorgibt, will es sehen, und muß es hineinprojizieren. Motivisch zunächst in gröbster Oberflächlichkeit geweckt, wendet der heimliche Blick des Voyeurs, der das Erwartete dann nicht findet, dessen Abwesenheit zum Vorwurf wohlfeiler moralischer Empörung: Haltet den Dieb!, läßt seine Enttäuschung ihn rufen.
     Die, die das Ganze am direktesten angeht, Kinder und Jugendliche, täuschen sich dagegen nicht: sie sehen offenbar, was zu sehen ist, wie ihre durchgehend zustimmenden Kommentare bezeugen.
     So können die absehbar gewesenen Reaktionen, die dieses Muster prompt erfüllen, wie der Hund nach der Wurst schnappt, nicht überraschen, denen Eva Bertrams Fotografie der Kindheit und Jugend ihrer Tochter ausgesetzt ist.
     Am unwichtigsten für eine ästhetisch angemessene Wahrnehmung ist wie in jedem Fall eines Bildwerkes, auch in diesem sein Motiv. Das moralisierende Nichtsehen klammert sich aussschließlich an dieses, und sieht in diesen Bildern, was kein einziges zeigt: ein ‚inszeniertes’, ein ‚benutztes’, gar ein ‚mißbrauchtes’ Kind, dem eine verwerflich ehrgeizige Mutter die ‚Kindheit stehle’.
     Tatsächlich hat dieses Werk aber gar kein Motiv, sondern zwei Akteurinnen einer existentiellen Bildkunst. Tochter und Mutter haben über Jahre hin Momente ihres gemeinsamen Lebens in fotografischen Szenen festgehalten. Dabei ist jede Inszenierung, jede Verkleidung, jede Pose, jede Geste ausschließlich Sache des Kindes gewesen. Nicht einem Bild liegt eine Aufforderung der Fotografin zugrunde, dieses oder jenes zu tun, diese oder jene Pose einzunehmen.
     Hier wird kein Kind, keine Kindheit als Motiv inszeniert: spielerische Szenen einer Kindheit präsentieren sich, wahrnehmbar gemacht durch die Perspektive der Kamera.
     Die Heftigkeit, mit der die Sorge um Kind und Kindheit sich derzeit öffentlich bekundet, überdeckt den kulturhistorischen Befund, der für eine angemessene Wahrnehmung dieses Kunstwerkes wichtig ist: Kindheit ist eine sehr junge Entdeckung in der europäischen Kultur. Kaum zweihundert Jahre ist sie alt. Antike und Mittelalter kannten sie nicht. Und das erste freie, behütete Kind existierte erst in der Phantasie seines Erfinders J.J. Rousseau – der seine eigenen Kinder ins Waisenhaus gab.
     Nach ersten Ansätzen in der bürgerlichen Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts erlitt die Entstehung der ‚Kindheit’ mit der Entwicklung der Industriegesellschaft einen schlimmen Rückschlag. Kinder werden, zuerst in England, dann auf dem Kontinent, zu Arbeitstieren im Bergbau und in Textilfabriken, degradiert.
     Erst nach dem Zeiten Weltkrieg erlangt das Kind in den europäischen Mittelschichten seinen respektierten Rang als Wesen eigenen Rechts. Noch 1964 – dem Jahr, in dem Eva Bertram geboren wird – schreibt Ruth Dirx in einem Buch, dessen etwas reißerischer Titel >Das Kind das unbekannte Wesen< über seine kulturhistorische Bedeutung täuschte: Wie wenig das Kind einstmals wert war, das konnte man noch vor nicht allzu langer Zeit in abgelegenen ländlichen Gebieten erleben, wo immer noch die Regel galt, dass der Bauer eher den Tierarzt zu seiner kranken Kuh holte als den Arzt zu seinem kranken Kind.
     Seine Einsetzung in den geachteten Rang eines Wesens eigener Art war das Ergebnis einer doppelten Emanzipation: der Frau seit der Französischen Revolution von Ehe und Mutterschaft als alleiniger Erfüllung ihres Daseins, und des Kindes aus dem Status eines biologischen Anhängsels der Frau, deren Existenz es legitimierte.
     In diesem gemeinsamen Werkzyklus „2 Ein Kind“ finden diese beiden Emanzipationen sich zu gemeinsamer, partnerschaftlicher Arbeit von Mutter und Kind verschränkt. Weit davon entfernt, bloßes ‚Objekt’ des mütterlichen Blicks zu sein, lenkt das Kind selbst mit seinen situativen Spielen den Blick der Kamera mit seinem eigenen Blick: es fordert auf, gesehen zu werden und festzuhalten, was sein eigener Wille zur Selbstinszenierung seines Kindlebens der Mutter durch das Objektiv ihrer Kamera darbietet.
     Dabei ist der auffallend durchgängige Ernst in diesem Blick der Ernst des freien Spieles, sich ungelenkt als das zeigen zu können, was das Kind gerade in der Situation erlebt, die das Kamerabild gestaltet.
     Wer je in ihr Spiel versunkene Kinder aufmerksam beobachtete, oder sich seiner eigenen Hingabe ans Spiel erinnert, weiß, was – dieser – Ernst ist: die unabgelenkte Überlassung an die Forderungen des Augenblicks, die sich von Moment zu Moment, von Handlung zu Handlung, von Eingebung zu Eingebung weiterspinnen.