Die Dämonen des Bösen sind vertrieben

Ein Chemnitzer Gebäude im Spiegel der Zeit

von Jürgen Koller
Die Dämonen des Bösen sind vertrieben

Vom Chemnitzer Königlichen Finanzamt
über Stasi-Zentrale zum humanistischen Gymnasium -
ein Gebäude im Spiegel der Zeit

 
Bis zum Fall der Berliner Mauer war es eine der gehaßten, zugleich auch der  gefürchteten Adressen im damaligen Karl-Marx-Stadt: Richard-Sorge-Straße 35 - Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit. Im Straßen-Jargon war stets nur die Rede von der „Stasi oben auf dem Kaßberg“.¹
Der Kaßberg galt (und gilt noch heute) mit seinen im Stil des wilhelminischen Historismus errichteten noblen Wohnquartieren als bevorzugte Wohngegend für das Chemnitzer Bürgertum. Das Stadtviertel ist über die Kaßberg-Auffahrt zu erreichen, die nach steiler S-Kurve in die weiterführende Westraße übergeht. Für viele Jahrzehnte gehörte das Bild von der sich den Berg hinaufquälenden oder der im Schritttempo mit schrill quietschenden Rädern und stiebendem Bremssand talwärts fahrenden „Elektrischen“ der Linie 8 zur Verkehrsgeschichte der Stadt. Am Ende der Kaßberg-Auffahrt wird diese von der Hohe Straße gequert (die frühere  Richard-Sorge-Straße). Linker Hand, einige wenige hundert Meter von der Kreuzung entfernt, liegt, etwas zurückgenommen, der langgestreckte dreigeschossige, mit  Renaissance-Elementen versehene Bau des einstigen Königlichen Gymnasiums.   Nach etlichen Umbenennungen und Neustrukturierungen in seiner über 140-jährigen Geschichte existierte seit Ende des 2. Weltkriegs bis 1990 das ehemalige Gymnasium nur noch rudimentär als naturwissenschaftlich orientierte „Friedrich-Engels-Oberschule“. Im Jahr der deutschen Einheit wieder als Gymnasium eingerichtet, trägt es heute den Namen „Karl-Schmidt-Rottluff-Gymnasium“, benannt nach dem Sohn der Stadt, dem expressionistischen Maler und Mitbegründer der Dresdener Künstlergemeinschaft „Brücke“.

Seit 140 Jahren ein dominanter Bau auf dem Chemnitzer Kaßberg -
das einstige Königliche Gymnasium -  Foto © Margot Koller

Rechts der Kreuzung Kaßberg-Auffahrt/Hohe Straße fällt der Blick auf ein im Stil der Neorenaissance errichtetes Eck-Gebäude. In eben diesem Gebäude residierte von 1953 bis zum Zusammenbruch des SED-Regimes die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit. Mochte auch die Kaßberg-Auffahrt mit  bimmelnder Straßenbahn, mit  altem Baumbestand und der Brücke über dem Chemnitz-Fluß eine gewisse Beschaulichkeit ausstrahlen, spätestens am bedrohlichen Haus der Stasi-Zentrale war es mit aller Idylle vorbei - unwillkürlich beschleunigten damals die Menschen    ihren Schritt und getrauten sich kaum, am streng bewachten Gebäude empor zu schauen.
 
Zu DDR-Zeiten war es wenig bekannt, daß dieses Gebäude einst einem ganz profanen Zweck gedient hatte - es war in den Jahren 1902 bis 1904 nach den Plänen des Dresdner Königlichen Bau- und Finanzrates Conrad Canzler als Königliches Finanzamt erbaut worden. Den schweren Luftangriff vom 5. März 1945 hatte das  Finanzamt ohne größere Schäden überstanden, wie überhaupt das ganze Kaßberg-Viertel kaum Verluste an Häusern zu beklagen hatte. Und so richtete die Rote Armee als Besatzungsmacht bereits im Mai 1945 im Gebäude des ehemaligen Finanzamtes  ihre Kommandantur ein, und ab 1953 steuerte dann von diesem mächtigen Bau aus die verhaßte Staatssicherheit ihren Unterdrückungs- und Spitzelapparat.
 
Nach dem Ende der SED-Diktatur war die Stadt Chemnitz unschlüssig, was mit dem Gebäude geschehen sollte. Letztlich wurde es  im Jahre 1990 der neu gegründeten „Neuen Sächsischen Galerie“ für ihren Sammlungsbestand zeitgenössischer Kunst übergeben. Schon damals war abzusehen, daß sich dieser Bau mangels großer Räume kaum für Ausstellungen eignen würde. Und auch an Investitionen war ja in jenen ersten Jahren nach der deutschen Einheit nicht zu denken.
Am 18. Januar 2000 bekam ich Gelegenheit, anläßlich einer Ausstellungseröffnung die ehemalige Stasi-Zentrale kennen zu lernen.
Werner Ballarin, Leiter der Neuen Sächsischen Galerie, hatte anläßlich des 80. Geburtstages Heinz Tetzners, des Altmeisters des sächsischen expressiven Realismus, dem Jubilar eine umfangreiche Präsentation seines Lebenswerkes ausgerichtet. Der Künstler hätte ob seiner Verdienste um die zeitgenössische expressive Kunst Sachsens eine Werkschau im König-Albert-Museum verdient gehabt, aber dort lief in den Räumen der Kunstsammlungen Chemnitz zeitgleich eine bundesweit beachtete Eduard-Munch-Ausstellung. Und so wurde diese Tetzner-Bilderschau ausstellungstechnisch zwar ein Provisorium, zugleich aber auch ein eindringlicher Beleg der Aufarbeitung zeitnaher deutscher Geschichte.
 

Heinz Tetzner "Selbst", Holzschnitt o.J.
Man stelle sich folgende gespenstige Situation vor: Das große Eckgebäude war im Erdgeschoss entkernt - die Decken- und Wandverkleidungen mit all den geheimen Telefonleitungen waren entfernt, die Fußböden in den Korridoren und Büros waren herausgerissen und mit grobem Kies verfüllt worden, die Wände provisorisch in Weiß getüncht, Heizung und Beleuchtung gab es nicht mehr. Und nur Tetzners farbintensive Gemälde, die harten Schwarz-Weiß-Holzschnitte und die leuchtenden Aquarelle wurden von Bodenstrahlern punktuell ausgeleuchtet. Der Ausstellungsmacher Ballarin provozierte bewußt und war sich doch zugleich gewiß - Tetzners Kunst würde sich in diesen Räumen der einstigen Stasi-Machthaber behaupten. Beim knirschenden Gang durch die verwinkelten Räume, die keinen Durchblick erlaubten, sprangen dem Betrachter Farben und Formstrukturen der Kunstwerke regelrecht entgegen. 
 
Die knollennasigen Clowns und Harlekine verspotteten die einst hier Macht ausübenden, die Selbstbildnisse sprachen von der Unbeugsamkeit des Künstlers, die farbmächtigen Provence-Bilder legten Zeugnis ab von neu gewonnener Reise- und Kunstfreiheit. All das war für den alten Künstler an diesem geschichtsträchtigen Ort eine einzigartige Genugtuung für die zerstörten Lebensträume und Hoffnungen, für  die Diffamierungen, Verleumdungen, Bespitzelungen und Schikanen, die er durch das SED-Regime hatte erdulden müssen. Es müssen so an die zweihundert Kunstfreunde gewesen sein, die im Januar 2000 der Einladung zur Vernissage gefolgt waren. Die Menschen standen dicht gedrängt im Foyer des Hauses, die Kälte nicht mehr spürend, und ehrten den alten Künstler für dessen standhaftes Beharren auf seinen moralisch-religiösen  Wertvorstellungen und seinen künstlerischen Überzeugungen, die der offiziell verordneten  Doktrin vom sozialistischen Realismus stets entgegenstanden hatten.

Doppelselbstbildnis, Öl auf Hartfaser 1988
 
Damals löste der Gedanke, sich in der einst so gefürchteten Machtzentrale des Verderbens zu bewegen, ein gewisses Schaudern oder gar ein beklemmendes Gefühl aus. Und doch gewannen in dieser einzigartigen, provokant gemachten Ausstellung jene Einsichten und Überzeugungen die Oberhand, die besagten, daß  die eigenständige expressive Bildkunst eines Heinz Tetzners mitgeholfen hatte, die Botschaft des Humanismus und des Menschseins bis in unsere Gegenwart zu tragen. Die Kunst hatte die Dämonen des Bösen endgültig aus diesem Haus vertrieben.
 
Um das Bestehen des Schmidt-Rottluff-Gymnasiums auch für die Zukunft zu sichern und die geforderte Dreizügigkeit zu gewährleisten, bedurfte es eines weiteren Schulgebäudes. Deshalb wurde ab 2002 das ehemalige Stasi-Gebäude dem Gymnasium zugesprochen. Das Haus wurde umfassend saniert und unter Berücksichtigung denkmalspflegerischer Forderungen zu einem Schulbau für die gymnasialen Klassenstufen 5 bis 8 umfunktioniert. Die Neue Sächsische Galerie hat im „Kultur-Tietz“, einem ehemaligen Kaufhaus in der Chemnitzer City, eine angemessene Heimstatt gefunden.
 
Etliche bekannte Persönlichkeiten deutscher Kunst und Literatur sind aus diesem Gymnasium hervorgegangen. Neben dem Namensgeber Karl Schmidt-Rottluff, der  von 1898 bis zum Abitur 1905 am Königlichen Gymnasium Schüler war, besuchte  auch der 1913 auf dem Chemnitzer Kaßberg als Helmut Flieg geborene Schriftsteller Stefan Heym die in der Weimarer Zeit in „Staatsgymnasium“ umbenannte Bildungsstätte. Heym war 1931(!) auf Druck örtlicher Nationalsozialisten wegen eines in der SPD-nahen Chemnitzer Zeitung „Volksstimme“ publizierten antimilitaristischen Spottgedichts und zugleich wegen seiner bürgerlich-jüdischen Herkunft von der Schule relegiert worden. Er hat sich erst in seinem letzten Lebensjahr mit seiner Vaterstadt Chemnitz versöhnt und die Ehrenbürgerwürde angenommen. Der späte  Buchtitel von Stefan Heym - „Der Winter unseres Mißvergnügens“ - könnte symptomatisch für die gesamte Zeitspanne von 1945 bis 1990 über dem Sitz der ehemaligen sowjetischen Kommandantur und der späteren Stasi-Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt stehen.²


Einst Stasi-Zentrale - heute Teil des Karl-Schmidt-Rottluf-Gymnasiums
Foto © Margot Koller

Moris sunt futura - Zukunft braucht Herkunft - so lautet das Motto des heutigen Karl-Schmidt-Rottluff-Gymnasiums, das wieder den Traditionslinien eines humanistischen Gymnasiums mit der Pflege alter und neuer Sprachen folgt, ohne dabei die Naturwissenschaften zu vernachlässigen.  Es bleibt zu hoffen und zu wünschen, daß sich diese gymnasiale Bildungsstätte unserer künftigen Elite nicht nur der humanistischen Traditionen und moralischen Werte der Vergangenheit  besinnt, sondern sich auch der Aufarbeitung der düsteren Jahre der Unfreiheit verpflichtet fühlt, deren Spuren für immer in die Mauern des neuen Schul-Gebäudes II, Hohe Straße 35 eingegraben sind.
 
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1) Richard Sorge (1895 -1944), deutscher Kommunist, war in den dreißiger Jahren, getarnt als Journalist der „Frankfurter Zeitung“, Sowjetspion in Tokio. Unter Ausnutzung seiner engen Beziehungen zum dortigen deutschen Botschafter Eugen Ott gelang es Sorge, kriegswichtige Nachrichten nach Moskau zu senden, so die Information, daß Japan im Winter 1941 die Sowjetunion nicht im Osten angreifen würde. Deshalb konnten Truppen aus Sibirien abgezogen und in die Winterschlacht gegen die Deutsche Wehrmacht vor Moskau geworfen werden. Richard Sorge wurde 1941 verhaftet und 1944 in Tokio hingerichtet. Die Stasi benutzte den Sowjetspion Sorge als sogenannten „Kundschafter des Friedens“ für ihre Propagandazwecke.
 
2) Stefan Heym (1913 - 2001) hat 1945 als US-Soldat in Uniform mit Waffe sein ehemaliges Gymnasium, das als deutsches Lazarett genutzt wurde, nochmals aufgesucht, danach nie wieder.  Besonders erschüttert hatte ihn seinerzeit, daß von der Synagoge am Stephansplatz auf dem Kaßberg - nahe dem Gymnasium - keine Spuren mehr zu finden waren, “…kein Stein davon mehr da, kein Ziegelbröckchen“.
Im Jahre 1965, nach heftigen Angriffen durch Erich Honecker auf dem 11. Plenum des ZK der SED, erhielt der Schriftsteller Publikationsverbot. Zeitgleich wurde Heyms Angebot, Karl-Marx-Stadt anläßlich der 800-Jahrfeier zur Gründung der Stadt literarisch zu unterstützen, brüsk und rigide von Oberbürgermeister Kurt Müller (SED) zurück gewiesen

Redaktion: Frank Becker