Bregenz - Wien - Salzburg - Ein musikalischer Österreich-Reisebericht (1)

Erste Station: Bregenz

von Peter Bilsing

Bühnenbild "Aida" - Foto © F.Gopp / Pixelio
Bregenz - Wien - Salzburg
 
Ein musikalischer
Österreich-Reisebericht
von Peter Bilsing
 

A
ls Herausgeber und Chefredakteur einer regelmäßigen Operngazette kommt man selten richtig heraus aus unserem schönen Bundesland Nordrhein Westfalen. Warum eigentlich auch diese vielfältige „Provinz“ verlassen, die uns mit ihren gut 50 Bühnen ein Angebot offeriert, welches es nirgendwo auf der Welt seinesgleichen hat, quantitativ absolut alternativlos. Es mangelt uns halt nur an sogenannten „Events“. Richtigen Opernereignissen. Solchen mit Tradition. So starte ich, auch um das nun anstehende 40. Jubiläumsjahr unseres „Opernfreundes“ würdevoll zu begehen zu einer „Magical Mystery Opera Tour 2010“; Zielorte sind Städte-Namen mit großer Opernereignis-Tradition: Bregenz, Wien und Salzburg. Die Arena di Verona wäre zwar das optische Sahnehäubchen, doch ein wenig zuviel auf der Geburtstagstorte geworden. Wer geht auch gerne an zwei aufeinander folgenden Tagen auf die Kirmes? „Wir!“ rufen meine kleinen Mädels (mittlerweile schon 15 und 17), die mich begleiten. In Wien werden wir mit dem Rest der Familie zusammentreffen.
 
„Was ist mit Bayreuth?“ - ruft mein kleiner Mann im Ohr. Tja liebe Opernfreunde, da muß ich nun klar und deutlich, aus leidgeprüfter Selbsterfahrung, sagen: Die Bayreuther Festspiele und zwei Meter Körpergröße schließen sich absolut aus. Außer, Sie sind ein Gummimensch und können bequem in einer Holzkiste übernachten. Meine Urgroßtante Paula war so ein veritabler Schlangenmensch, eine Varieté-Künstlerin, die konnte so etwas. „Serpa“ war ihr Künstlername und sie ist sogar mit 80 Jahren noch mit dieser Nummer bei Thomas Gottschalk im ZDF aufgetreten. Moi non plus, liebe Leser! Nicht enden wollende Wagnermusik bei gleichzeitig physischen Sitz- und Rücken-Schmerzen (Inszenierungsschmerzen, wie Sie, empfindet ein gestandener Kritiker nicht mehr) erinnert mich heuer eher an die subtilen Foltermethoden einer modernen Militärjunta. Da lasse ich den zartgebauteren jüngeren Kollegen vom „Opernfreund“ gerne den Vortritt. Mittlerweile (früher ging ich ja nur zu Wagner!) ziehe ich einen einstündigen Zemlinsky jeder Götterdämmerung vor, und Mahler ertrag ich nur noch in der Essener Philharmonie mit ihrem grandiosen Sitzplatzangebot. Besser sitzt man nirgends… Ich würde kühn behaupten, daß man da nach zwei Stunden gesünder wieder herauskommt, als man hinein gegangen ist. Da frohlockt das Herz und es jubeln Füße und Rücken. Vivat Essener Philharmonie! Doch nach diesem Vorwort auf nach Österreich.
 
Bregenz
 
Die ersten Versuche bei HRS (Hotel Reservation Service) im Internet zu Bregenz sind erschütternd ernüchternd: zwei Personen + Beistellbett pro Tag: zwischen 250 und 400 Euro – ohne Frühstück,

Die Pfänder-Bahn hoch über Bregenz - Foto © Elsa / Pixelio
versteht sich. Doch dann geben wir in den PC ein: Umkreissuche 30 km. Und wir staunen nicht schlecht. „Wunder muß ich Euch melden.“ In der Region „Bregenzer Wald“ kommen wir für 55 Euro (alle drei) inkl. Frühstück in einer netten Pension in Hittisau unter - Höhenluft gratis. Macht für drei Tage 165 Euro - und jetzt das zweite Wunder: Wer sich für drei Tage und mehr im Bregenzer Wald einbucht, bekommt im Sommer eine Gästekarte, die es in sich hat. Alle Seilbahnen (und das sind nicht wenige) der Region dürfen kostenlos und beliebig oft benutzt werden, alle öffentlichen Verkehrsmittel (bis Bregenz ggf.) sind gratis und die mitgereisten jungen Damen staunen über freien Eintritt sogar in alle Schwimmbäder und Museen. Wo gibt es das sonst? Da nimmt man gerne die 40 Minuten Fahrtzeit nach Bregenz in Kauf und bleibt länger als ursprünglich vorgesehen. Also zeigen Sie den teuren Abzockerhotels die rote Karte. Der nächste Urlaub, vor allem für Familien mit Kindern, sollte in dieser wunderbaren Gegend eingeplant werden.
 
Stichwort: Bregenzer Festspiele

Nach dem postalischen Erwerb der Karten, hier gleich mein Geheimtip (den Sie bitte nicht weitererzählen! Pssst!): Direkt an das Festspielgelände grenzt links ein riesiges Freibad, welches den Parkplatz mit dem Opernszenario teilt. Das Freibad beherbergt eine herrliche Saunawelt (Eintritt: 13 Euro), die bis 22 Uhr geöffnet hat und einen wunderbaren Blick vom Ruheraum über den Bodensee bietet. Was macht also der echte Genießer? Er bucht sich um 16 Uhr in die Sauna ein, relaxt bis 20.45 Uhr und trollt sich dann gemütlich rüber, die rund 500 Meter zur gigantischen Seebühne oder ins Festspielhaus. So sauniert und abgehärtet überstehen Sie auch 90 Minuten Dauerregen - den wir leider hatten - ohne Erkältung. Und noch etwas: Vergessen Sie bitte festliche Opernkleidung. Wetterfeste Klamotten sind angesagt; warme, wasserdichte Schuhe sind sehr sinnvoll - ihre handgenähten Clarks sind nach 90 Minuten Regen im …. Goretex-Jacke ist ebenso wichtig wie möglichst eine wasserdichte Radler- oder Jogginghose mit Seitenreißverschluß. Abends wird es kalt am Meer, der Bodensee ist eines mit seiner Größe von über 560 qkm, also Pullover nicht vergessen. Vielleicht einen Feldstecher mitnehmen, einen Regenschirm nur, wenn Sie von netten Mitmenschen erschlagen werden möchten.
 
Die Regularien beim Open-Air sind: Abbruch binnen 60 Minuten – Geld zurück. Ist Sturm angesagt, dann keine Vorstellung. Halten die Sänger, die sich wie alle Zuschauer unbarmherzig im Regen aufhalten müssen länger durch, dann ist für die Mehrheit auf den „billigen“ Plätzen (5000 Besucher) die Heimfahrt angesagt und nur die 2000 auf den teuren Plätzen dürfen den Rest der Oper dann quasi semikonzertant im Festspielhaus zu Ende schauen. Vergessen Sie es! Kaufen Sie sich die billigste Karte – je billiger, desto höher sitzt man nämlich. Und genießen Sie so den immer besser werdenden Blick über den See. Das ist einmalig! Beneiden Sie nicht die edleren Platzbesitzer; denn pottnaß-geregnet sich dann ins klimaanlagentechnisch doch recht heruntergekühlte Haus zu setzen ist keine Freude. Es sei denn man hat komplette Wechselkleidung dabei, aber wo umziehen? So bleibt das Festspielhaus bei solchen Anlässen denn auch meist halb leer. Eine konzertante Aida können Sie wirklich zuhause in ihrem Heimopernhaus besser erleben.
 
Es ist auf jeden Fall ein großes Erlebnis, ob es regnet oder nicht. Wobei ich einmal ketzerisch davon ausgehe, daß vielen Besuchern 70-90 Minuten pure Opernmusik eigentlich reichen. Es gibt in Bregenz keine Pausen, daher wird Wagners Götterdämmerung sicherlich niemals auf dem Spielplan stehen.
 
Auch bei Regen: ein Ereignis

Donnerstag, 22.Juli, 21.15 h. Es hat tatsächlich seit fünf Minuten aufgehört zu regnen. Kurz vor Beginn noch die kurze ehrliche Durchsage einer sympathischen Frauenstimme „Meine Damen und Herren, ganz herzlich Willkommen bei den Bregenzer Festspielen 2010, wir beginnen in wenigen Sekunden trotz des schlechten Wetters, denn die Wetterstationen berichten übereinstimmend, das es zu regnen aufhören soll – weitere Zwischenschauer sind aber nicht auszuschließen. Also, es wird garantiert naß werden. Wir wünschen trotzdem viel viel Spaß und Freude bei unserer diesjährigen Aida! Die Künstler haben versichert, solange es irgendwie geht durchzuhalten.“
 

Festspiele Bregenz - Foto © René Pescht / Pixelio
Wie abzusehen kommen mit den ersten Tönen des Vorspiels die Regentropfen wieder. Im Rascheln der angelegten Regenkleidung geht manche Note unter, aber das ist egal, denn praktisch niemand geht. Diese wunderbare Musik und die ersten Sangestöne schweißen uns alle irgendwie zusammen. Das Wunder der Musik Giuseppe Verdis fängt an zu wirken. Obwohl viele Zuschauer sicherlich keine Opernfans sind, und die meisten garantiert vorher in keinem Opernhaus waren, hält man durch. Auch als der Regen stärker wird, bannen Verdis Triumphmarsch und die phantastische Inszenierung uns in die nassen Plastik-Schalen-Sessel, die erstaunlicherweise nicht unbedingt unbequem sind. Auf den nächsten Etappen meiner Opernreise, werde ich noch reuevoll an diesen quasi neutralen „Sitzgenuß“ für jedermann zurückdenken.
 
Mittels zweier gut hundert Meter hoher und fast geräuschlos arbeitender Kräne, die zum gigantischen Bühnenbild (Paul Brown) gehören, entstehen durch immer neue, langsam aus dem Wasser aufsteigende riesige Stahl-Objekte, die Relikte einer verfallenen Kultur, die sich scheinbar magisch lautlos zu Monumenten wie der Freiheitsstatue, Kronen, Flügeln und Schiffen materialisieren. Die scheinbare Schwerelosigkeit aller Elemente und die mühelose Abfolge macht staunen.
 
Staunen machen auch die Künstler, die trotz elendigem Regen weitermachen. Eine Armee von Tauchern sichert unsichtbar, dem Regiekonzept folgend, ins Wasser stürzende Solisten. Manch einer muß tauchen, andere verstecken sich in diesem Bodensee und sogar ein Wasserballett auf einer schwankenden Plattform ist geradezu faszinierend artistisch einstudiert. Hoch oben in 80 Meter Höhe schwebt der Oberpriester. Was sind das für ungeheure Bilder! Die Szene läßt die Unbill des Wetters vergessen, der phantastische Gesang – allen voran die traumhaft sichere Amneris von Iano Tamar, verzaubert das Publikum – welch göttliche Stimme im strömenden Regen. Dazu tolle Chöre und ein im 360 Grad Sound technisch perfekt über exorbitant gute Lautsprecher eingespieltes Orchester. Die Musiker der Wiener Symphoniker und der Dirigent sitzen im Trockenen, im Graben des Festspielhauses – der vorzügliche Orchesterleiter Carlo Rizzi wird über mehrere Großleinwände live übertragen, als würde er uns alle mitdirigieren.
 
Und alle Zuschauer sind sich einig, es sieht aus, wie eine geheime Absprache: Solange diese

Die Bregenzer Sitze - Foto © Hans-Jürgen Steglich / Pixelio
einmaligen Künstler durchhalten, die so naß sind wie wir und dabei noch hochanstrengend singen müssen – solange halten wir auch durch! Unisono ist dieses Credo von 7000 faszinierten Menschen, die allen Unbilden der Natur trotzen, um diesen Verdi zu hören, um diesen Verdi zu erleben. Die überragend spannend gestaltete Inszenierung von Graham Vick läßt keine Langeweile aufkommen; keiner denkt mehr ernsthaft über den Regen nach oder fühlt sich gestört. Was für ein Publikum! Was für eine Stimmung! Die Atmosphäre ist mit Worten kaum zu beschreiben. Und wenn nach gut 90 Minuten, nach dem gelungenen Duett Amneris-Radames, der Dirigent abklopft, ist niemand verärgert. Ein Riesenpublikum zollt einhelligen Respekt und akklamiert in größter Hochachtung die großartige Leistung der Sänger. Die Künstler klatschen zurück: Danke, daß Ihr durchgehalten habt! 7000 begeisterte Menschen sagen umgekehrt durch ihren Riesenbeifall ihr „Danke“. Und ihre strahlenden Augen und begeisterten Gesichter sprechen Bände. Da scheint keiner ernsthaft traurig zu sein, daß wir nur Dreiviertel der Opern erleben durften. Vielleicht klappt es ja nächstes Mal. Die sympathische Frauenstimme aus dem Off verabschiedet sich mit glaubwürdigem Bedauern von den nun Heimreisenden und wünscht dem Rest noch ein schönes Finale im Festspielhaus. Wir werden diesen Abend bestimmt so schnell nicht vergessen. Wunderbar. Auch meine „Kleinen“ sind beeindruckt.
 
Stichwort: Bregenzer Festspielhaus
 
Mit dem Festspielhaus gibt es ein zweites Standbein, welches Intendant David Pountney mittlerweile kongenial nutzt, um vergessene Opernschätze zu bergen. War es letztes Jahr die höchst selten gespielt Oper „Krol Roger“ von Szymanowsky, so gab es dieses Jahr eine echte Uraufführung auf der Bühne: „Die Passagierin“ vom vergessenen Komponisten Miecyslaw Weinberg. Da die Oper schon in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts fertiggestellt wurde, muß sie als eines der Juwelen der Gattung „Oper der Neuzeit/Oper des 20. Jahrhunderts“ gezählt werden und darf sich fraglos neben

Bodensee/Bregenz - Foto © Dario Premm / Pixelio
Werken wie Zimmermann „Soldaten“ oder Bergs „Lulu“ sehen lassen. Eine ganz große Oper eines völlig bisher unbeachteten Komponisten, den ich in meinem großen Artikel über Weinberg (siehe letzter „Opernfreund“ bzw. http://www.musenblaetter.de/) künstlerisch irgendwo zwischen Schostakowitsch und Schnittke einordnen würde. Was für eine Jahrhundert-Entdeckung war diese Ausgrabung. (Mehr und Umfassenderes siehe Bregenz-Bericht von Opernfreund-Kritiker Martin Freitag). Dazu gibt es unzählige Nebenveranstaltungen und Konzerte zu und von Weinberg in Bregenz. Besser kann ein Themenschwerpunkt nicht angeboten werden.
 
Dem weitsichtigen Intendanten David Pountney muß hier größte Hochachtung und vorbildliche Präsentation bescheinigt werden. Well done David! Denn besser und kompetenter ist verantwortungsvolle Kulturarbeit nicht zu leisten. Pountney sollte ein Vorbild für all die Heerscharen von Intendanten sein, die bei uns in hochsubventionierten Häusern viel Geld für Nichts verplempern oder uns mit minderwertigen Auftragswerken quälen. Dazu muß man wissen, daß die Bregenzer Festspiele mit wirklich nur marginalen staatlichen Zuschüssen arbeiten. Der große Batzen der österreichischen Steuermittel wird in Salzburg verbrannt.
 
Adieu Bregenz – reisen mit uns in der kommenden Woche weiter nach Wien. Ich freue mich auf Ihre Begleitung!
 
Herzlich grüßt
Ihr
Peter Bilsing
 
 
 
© Peter Bilsing – (Dr. Peter Bilsing ist der Herausgeber von Deutschlands ältester
Privater Opernzeitschrift „Der Opernfreund“ www.deropernfreund.de )
Erstveröffentlichung in dieser  Form in den Musenblättern 2010
Redaktion: Frank Becker