Turandotissimo!

Puccini a la bonheur in Bonn

von Peter Bilsing
Turandotissimo!
 

Das große Puccini-Wunder von Bonn
 
Premiere am 26.9.2010


Foto © Thilo Beu
Musikalische Leitung: Stefan Blunier - Inszenierung: Silviu Purcarete - Bühne und Kostüme: Helmut Stürmer - Licht: Max Karbe - Choreinstudierung: Sibylle Wagner - Dramaturgie: Sabine Radermacher - Fotos: Thilo Beu
Besetzung: Prinzessin Turandot: Rachael Tovey - Timur: Ramaz Chikviladze - Calaf: George Oniani - Liù: Julia Kamenik (1.10.)/Irina Oknina (26.9.; 14.10., 16.10.; 31.10.) - Kaiser Altoum: Valentin Jar - Ping: Giorgos Kanaris (26.9.; 1.10.; 16.10.)/Lee Poulis (14.10., 31.10.) - Pang: Tansel Akzeybek - Pong: Mark Rosenthal
Chor, Extrachor und Kinderchor des THEATER BONN, Beethoven-Orchester Bonn
 

Nichts für zarte Stimmchen

Puccinis „Turandot“ ist schon eine seltsame Oper – mehr Kunstgewerbe denn Kunst stellt das Werk

Turandots Fragen - Foto © Thilo Beu
schier gigantische Ansprüche an Gesang und szenische wie auch orchestrale Gestaltung sowie die Besetzung. Das Werk der Massenaufläufe – mehr noch als Verdis „Aida“. So recht eine Oper wie geschaffen für Freiluftveranstaltungen a la Arena di Verona oder entsprechende Zirkusveranstaltungen in Fußballstadien mit vielen Tieren und Artisten. Spielraum für feinsinniges Musiktheater bietet das von Kritikern auch gerne als Macho-Werk proklamierte Stück wenig. Hinstellen und Los-Schmettern lautet das Motto. Zarte Stimmchen haben keine Chance – allenthalben lassen wir da noch die Sklavin Lui gelten, aber die geht ja nach kurzem Auftreten schon dahin, via Harakiri, zum leidvollen Grauen des Publikums – aber auch als logische Folge von Puccinis fataler Leitmotivik, unter der praktisch immer die Frauen zu leiden haben und völlig ungerecht, aber zu herzerfrischend schöner Musik dahinsterben. War der Maestro gar ein verkannter Frauenhasser? Was hatte Giacomo gegen das weibliche Geschlecht? Nichts, im Gegenteil: Puccini war kein Kostverächter! Und er wußte genau: Frauen sterben einfach musikalisch schöner, besser, dramatischer und herzergreifender.
 
Wie sich´s bei Puccini so stirbt

Erlauben Sie mir, verehrte Leser, eine kurze und vielleicht lehrreiche Chronologie des Grauens in Puccini-Opern, denn es sterben immer ausgesprochen nette Mädels und fast nur liebende Frauen; auch ist so die Ultra-Brutalität der Turandot vielleicht verständlicher. Sie heißen:
 
> Anna (Le Villi, 1884) sie stirbt recht unbekannt, weil praktisch kein Mensch die Oper kennt
> Fidelia (Edgar, 1889) auch der fröhliche Name bringt kein Glück - nomen non est omen
> Manon (Manon Lescaut, 1903) stirbt im gemeinsamen Liebestod a la Wagner
> Mimi (La Boheme, 1893) Puccinis Erste Taschentuchoper – die Heldin wird nicht ermordet, und begeht auch keinen Suizid, sondern stirbt eines, na ja, natürlichen Todes durch Tuberkulose,
> Tosca (1900) opfert sich in ganz spektakulärem Ambiente durch Sprung von der Engelsburg - wie mittlerweile Millionen aufgrund der Reihe „Oper an Originalschauplätzen“ wissen,
> Cho-Cho-San (Madama Butterfly, 1904) Zweite berühmte Taschentuchoper – ein Kind auf der Bühne macht ihr Harakiri besonders tragisch, erste Anti-Amerika-Oper
> Giorgetta (Der Mantel, 1918) Eifersucht tötet
> Angelika (Schwester Angelika, 1918) es lohnen nur die letzten 20 Minuten, aber die sind besonders schön – Tod durch Gift in friedlichen Klostermauern und holder Gottesseligkeit.
 
In Gianni Schicci (1918) dem dritten Teil des Tryptichons, La Fanciulla del West (1910), eine Art Opern-Bonanza und La Rondine (1917) sterben keine Frauen – es sind des Maestros einzig fröhliche Werke; nebenbei bemerkt, daher auch ziemlich langweilig…


Der Tod Lius - Foto © Thilo Beu
 
Liu und die Variationen von Toscanini bis Berio

Zurück zu Turandot und unserer Liu, denn sie stirbt zwar, aber dummerweise nicht am Ende der Oper, wie es für einen hochdramatischen großen Tod bei Puccini bisher immer üblich war. Puccini hatte eigentlich noch einen monumentalen Schluß mit großem Happyend im Kopf und teilnotiert, da er unvermittelt am 29. November 1924 abtrat. Vielleicht wollte ihm der liebe Gott auch nur sagen „Caro Giacomo, bis hier ist genug! Ein großes glückliches Finale paßt nun wirklich nicht in diese düstere Werk, also bleib Deiner Linie treu – Goodbye!“
Ich stelle mir das in meinen ketzerischen Gedanken genauso vor. Daher gibt es heuer gleich vier Aktschlüsse. Puristen, wie Toscanini beendeten das Werk immer nach dem Tod Lius – „hier endet das Werk des Meisters, danach starb er!“ Mehr kriegt ihr nicht zu hören. Ein kurzer Abend!
 
Dann gibt es den aufgrund der Skizzen von Puccini-Schüler Franco Alfano nachkomponierten Schluß in zwei Versionen: lang und kurz. Also Alfano-lang oder Alfano-kurz steht dann im Programmheft! Und es gibt den Berio-Schluß von 2002 – der wie verlautet „nach den allerneuesten musikwissenschaftlichen Erkenntnissen“ eingerichtet wurde. Den will nun wirklich kein Vollblutopernfreund hören. Regisseure, die ihr Publikum ärgern wollen, nehmen dieses Finale. In Bonn gibt man eine Mischung aus Al 1 und Al 2. Der wunderbare Giganto-Schluß, wie ihn die meisten Opernbesucher lieben. Es wird geschmettert, was das Zeug hält. Der wunderbare blanke Wahnsinn - der schönste Lärm, den es gibt!
 
Köstliches Getöse

Überhaupt ist das, was die blechverstärkten Bonner Beethoven-Musici leisten, einfach ungeheuerlich. Weder in der MET, noch der Mailänder Skala, von der Arena di Verona ganz zu schweigen, habe ich je solche Klanggewalten so direkt wahrgenommen wie sie Stefan Blunier zelebriert: Volle Orchesterbesetzung und zusätzlich donnerten die Blechbläser der Bühnenmusik noch aus der Proszensiumsloge seitlich auf´s Publikum herab. Da mußte mancher schlucken, wurden wohl diverse Hörgeräte zerstört und einigen die letzten Haare vom Kopf geblasen. Wir haben alle unseren Ohren nicht getraut. Der Ruf nach Ohrenschützern verhallte ungehört im Getöse.
Ein mittleres Haus mit einem solchen Weltklasse-Puccini ohne Kompromisse und in dieser Top-Qualität ist ein kleines Wunder. Nennen wir es einfach: Das Puccini-Wunder von Bonn. Der Spaß und die Freude an den großen Puccini-Klängen, die Blunier wohl hat, teilte sich uneingeschränkt auch dem Orchester mit. Wie viel Proben und wie viel Engagement hat es hier gegeben?
 
Herrliche Stimmen

Daß man mit Rachael Tovey als Turandot und George Oniani als Calaf die perfekten Interpreten für

Der Tod des ersten Prinzen - Foto © Thilo Beu
diese in Sängerkreisen als gesundheitsgefährdent geltende hochschwierigen Partien hat, die im Fortissimo der zweihundert Musiker und Choristen diese Klangmassen noch übertreffen müssen, ist ein einmaliger Glücksfall. Genuß pur in Bonn.
Die ruhigeren Partien waren mit Irina Oknina (Liu), Valentin Jar (Altoum) und Ramaz Chikviladze (Timur) blendend besetzt. Schöner, blutiger und ergreifender starb selten eine Liu, was für eine Künstlerin. Hört Ihr den Maestro Puccini aus dem Himmel „Brava“ rufen? Ich habe ihn gehört. Auch der klassische Chor, bestehend aus Ping (Giorgos Kanaris), Pang (Tansel Akzeybek) und Pong (Mark Rosenthal) überzeugte mehr als nachhaltig. Chor und Extrachor (Sibylle Wagner) bewiesen einmal wieder uneingeschränkte ihre Spitzenstellung in NRW und auch der Kinderchor (Ekaterina Klewitz) war bestens disponiert.
 
Bühne und Kostüme (Helmut Stürmer) repräsentierten adäquat das Alptraum-Szenario eines Horror-Märchens welches Silviu Purcarete & Nikolaus Wolcz (Regie) raumfüllend und sehr textnah über die Bühne brachten. Ein Blutbad im Meer von abgeschlagenen Köpfen und realistische Folterszenen könnten empfindlichen Menschen und Sensibelchen auf den Magen schlagen. (Jugendfrei ab 12 Jahren, würde ich sagen). Aber jetzt mal Hand aufs Herz: Solche Musikfreunde gehen sicherlich nicht in „Turandot“, oder?

Auf nach Bonn!

Wer auch nur ansatzweise Fan dieser Oper ist, sollte… nein muß sich schnellstens nach Bonn einbuchen! Solch eine bombastische „Turandot“ in szenisch und gesanglich perfekter Umsetzung ohne Fehl und Tadel gab es lange nicht mehr in dieser unserer Opernwelt. Der fast 20-minütige Beifall mit berechtigten stehenden Ovationen zeigte ein Publikum im Puccini-Rausch.

Iinformationen unter: www.theater-bonn.de

Redaktion: Frank Becker