Die Liebe zu den drei Orangen

Exemplarische Inszenierung in Krefeld

von Peter Bilsing
Die Liebe zu den drei Orangen
 
Exemplarische Inszenierung
im musikalischen Prokofjew-Himmel
 
Saisonauftakt an den Vereinigten Bühnen
KR/MG in Krefeld am 2.10.2010
 
 

Musikalische Leitung | Graham Jackson - Inszenierung | Ansgar Weigner - Bühne und Kostüme | Robert Schrag Choreinstudierung | Heinz Klaus*, Maria Benyumova - Dramaturgie | Ulrike Aistleitner – Fotos: M. Stutte -
Besetzung: König Treff / Köchin / Herold | Matthias Wippich - Der Prinz, sein Sohn | Daniel Kirch* - Prinzessin Clarisse, Nichte des Königs | Eva Maria Günschmann - Leander, Erster Minister | Christoph Erpenbeck - Truffaldino, ein Spaßmacher | Markus Heinrich - Pantalon, ein Höfling / Farfarello, ein Teufel | Michael Kupfer - Tschelio, ein Zauberer | Hayk Dèinyan - Fata Morgana, eine Zauberin | Janet Bartolova - Linetta | Nele van Deyk - Nicoletta | Marianne Thijssens - Ninetta | Isabelle Razawi - Smeraldina | Susanne Seefing* - Zeremonienmeister | Ben Heijnen
 
Ein junger Mensch verliert sich in der Orientierungslosigkeit des Überangebots: Weil er alles Materielle haben und alle Menschen besitzen kann, wird er krank. Ein Hypochondrius maximus. Er leidet an allem und gleichzeitig an nichts. Andauernde RTL-Flachland-Comedy hat ihm wohl das Lachen verschlagen. Von nun an findet er nichts mehr komisch und zieht sich resigniert gelangweilt ins Bett zurück. Seine Umwelt verzweifelt.

So beginnt unsere Oper „Die Liebe zu den drei Orangen“ (UA 1921 Chicago / DE 1925 Köln). Wie brandaktuell und zeitlos ist doch Prokofjews Meisterwerk (in Szene und Musik gesetzt nach dem bekannten Märchenspiel von Carlo Gozzi, 1761), auch noch heute im Jahre 2010. Gerade heute.
Wer Kino- und Science-Fiction-Fan ist, wird im Hauptleitmotiv, dem As-Dur-Marsch des Königs, sofort den „Marsch der Evoks“ aus Spielbergs Star-Wars-Spektakel erkennen, den John Williams schamlos geklaut, ähem… humorvoll zitiert hat.
Geklaut – welch böses Wörtchen! Nein, bleiben wir lieber ironisierend bei „zitiert hat“ - auch Maestro Prokofjew hat das getan und zwar werkimmanent kontinuierlich. Sei es der Götterdämmerungsauftakt, Wagners Walkürenritt, barocke Rachearien oder pars pro toto Beethovens Fünfte und vieles mehr. Alles ist wie eine gigantische polytonale Klangtraube, die sich permanent in kleinste Weinbeeren von Musikzitaten aufspaltet. Die vielfältigen unzähligen Gesangspartien schöpfen aus den Partituren der Opernhistorie und parodieren höchst unterhaltsam, was es nur zu parodieren gibt. Eine geniale, witzig und sarkastisch dem Impressionismus verschriebene Musik, die natürlich bald im stalinistischen Russland verboten wurde. Die teils hoch feinsinnige Orchestrierung expandiert nicht selten zu großen Ausbrüchen parallel zur irrationalen Komik der Handlung. Ein großer, weltumfassender musikalischer Spaß ohne Ende. Statt Märchen wäre mir der Begriff der bizarren Groteske lieber. Dies alles für das Publikum nachvollziehbar hörbar zu machen, erfordert ungeheure Orchesterarbeit und gigantische Vorbereitung.

 
Deswegen fange ich gleich mit dem Top-Star des in Krefeld überragend und fantastisch in Szene gesetzten Abends an, nämlich GMD Graham Jackson. Nicht nur, daß er ein gigantisches Bühnensammelsurium von Chor, Extrachor, Projektchor und Statisten kompetent koordiniert, sowie den auf allen Ebenen herumwirbelnden Sängern ihre Einsätze passabel vermittelt. Er muß auch jede Orchestergruppe penibel in Aug und Ohr haben, damit dieser Koloß von Gesamtkunstwerk nicht kollabiert: Eine geradezu übermenschliche Aufgabe und Herausforderung, welche Jackson vorbildlich und sogar noch mit sichtbarer Freude meistert. Was aus dem Orchestergaben dringt, ist furios. Prokofjews geniale Musik findet hier ihren ebenso genialen Musikverwalter. Dahinter müssen sich selbst größte Bühnen und A-Orchester verstecken. Nix Provinz, das ist internationale Spitzenklasse!
 
Das Stück benötig fast alle Sänger des wie stets äußerst kompetenten Ensembles, die nicht nur bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit singen, sondern auch agieren müssen. Im großen Roadrunner-Finale geht so richtig „die Post ab“. Action bis ins letzte Sänger- und Choristenglied - das Regieteam muß wochenlanges Fitness-Training für alle Beteiligten verordnet haben. Das habe ich bisher auf keiner Bühne gesehen! Da bleibt kein Hemd und kein Auge trocken. Was für eine Inszenierung von Ansgar Weigner. Endlich einmal kompetente Regie, die mit Massen umgehen kann; dabei kommt ihr natürlich die riesige Bühne des Krefelder Hauses lauf- und gestaltungsmäßig sehr zugute.
 
Robert Schrag (Bühne & Kostüme) gelingt ein Zauberkasten unendlicher Vielfalt, als wären wir in einem Film von Tim Burton gelandet. Farbenfrohe Kartenmotive aller Orten, und die Einheitsbühne mit vorgezogener Spielebene erscheint durch die wunderbar fast choreografisch beweglichen Zusatz-Elemente von Kartenhäusern der vielfältigsten Art wie ein bezauberndes Alice-im-Wunderland-Universum - kühne Farbenpracht und Lichtregie. Die Bühnentechnik arbeitet brillant, so sollte es immer es sein!
Daß man die Geschichte mit der original Freischütz-Ouvertüre und dem Obertitel „heute Freischütz“ beginnt - was tatsächlich, man glaubt es kaum, doch einige Besucher verunsicherte („Erna, das darf doch wohl nicht wahr sein“) – zeigt, wie köstlich das Regieteam mit musikalischem Humor umgehen kann, was sich im Laufe des Abends (auch in den Übertiteln) höchst unterhaltsam fortsetzt. „Das orchestrale Zwischenspiel dauert jetzt 2,5 Minuten!“ Kurzweiliger geht es nicht!
 
Am Ende noch Lob und Anerkennung für die blendende Choreinstudierung von Maria Benyumova und Heinz Klaus. Aber das ganz große „Merket-auf“ für die enorme Leistung aller Choristen, die neben ihrer Sangestätigkeit ein Bewegungspensum zu bewältigen hatten, das kein Chor der Welt so klaglos geleistet hätte, wäre man nicht zu 100% von diesem Regiekonzept überzeugt gewesen. Lautstarker Jubel und ein berechtigtes Gewitter von Bravi, nicht nur vor dem Vorhang im Auditorium, sondern auch hörbar hinter dem Paravent als Zeichen erleichterter Freude.
 
So lautet des Kritikers flehentliche Bitte an alle Krefelder und Niederrheiner im Umfeld, unbedingt das Theater zu stürmen. Eine so köstliche und exemplarische Inszenierung dieses Meisterwerkes werdet Ihr selten wieder zu sehen bekommen!

 

Aufführungen: 08. Oktober 2010 | 20.00 Uhr | 17. Oktober 2010 | 16.00 Uhr | Theater Krefeld | Vorstellung | Einführung um 15:30 Uhr im Glasfoyer / 23. Oktober 2010 | 18.00 Uhr | Theater Krefeld | Vorstellung | Einführung um 17:30 Uhr im Glasfoyer / 10. November 2010 | 20.00 Uhr | Theater Krefeld | Vorstellung | Einführung um 19:30 Uhr im Glasfoyer / 05. Dezember 2010 | 19.30 Uhr | Theater Krefeld | Vorstellung | Einführung um 19:00 Uhr im Glasfoyer / 09. Dezember 2010 | 20.00 Uhr | Theater Krefeld | Vorstellung | Einführung um 19:30 Uhr im Glasfoyer /19. Dezember 2010 | 19.30 Uhr | Theater Krefeld | Vorstellung | Einführung um 19:00 Uhr im Glasfoyer / 07. Januar 2011 | 20.00 Uhr | Theater Krefeld | Vorstellung | Einführung um 19:30 Uhr im Glasfoyer / 11. Januar 2011 | 20.00 Uhr | Theater Krefeld | Vorstellung | Einführung um 19:30 Uhr im Glasfoyer / 22. Januar 2011 | 18.00 Uhr | Theater Krefeld | zum letzten Mal in Krefeld

Redaktion: Frank Becker