Denkanstöße

Tim Parks - "Die Kunst Stillzusitzen"

von Jürgen Kasten
Denkanstöße
 
Mal abgesehen von Männern im fortgeschrittenen Alter, wen interessieren Prostatabeschwerden? Tim Parks schon, denn ihn plagen sie. Ist stillsitzen wirklich eine Kunst? Millionen Yogaübende, Meditationspraktizierende oder Entspannungssuchende wissen um die Bedeutung des Beckenbodens und der Bauchatmung. Tim Parks nicht. Er will es auch gar nicht wissen. Er glaubt an den rein physikalischen Körper und die handwerkliche Kunst der Humanmedizin. Alles andere ist Hokuspokus. Seit frühester Jugend denkt er so, seit er in einer puritanisch englischen Familie groß wurde und seinen streng predigenden Vater auf der Kanzel erleben mußte, seine Mutter, die Teufelsaustreibungen praktizierte und mit Gesundbeten und Handauflegen alles Böse aus der Welt verbannen wollte - und doch die Familie nicht vor Kinderlähmung, Fehlgeburten und Krebstod bewahren konnte. Alles Hokuspokus, sagt Tim Parks.
 
Er ist Schriftsteller, hat mehr als 20 Romane und unzählige Essays geschrieben und Übersetzungen angefertigt, lebt seit Jahrzehnten in Italien und lehrt dort an der Uni. Außerdem betreibt er Extremsport und hat seit Monaten Schmerzen im Unterleib, die ihn nicht mehr schlafen lassen und seinen Lebensrhythmus beeinträchtigen. Das ist die Prostata, sagt ein befreundeter Urologe, muß operiert werden. Operationen mag Tim Parks auch nicht. Erst mal alles genauestens untersuchen, verschiedene ärztliche Meinungen einholen. Die Prostata ist in Ordnung. Die Blase auch, der Darm kerngesund. Trotzdem operieren, sagt sein Freund, vielleicht hilft es.
Tim Parks kann nachts nicht mehr schlafen und surft im Internet. Verliert sich in unsäglichen Foren klagender Menschen mit unklaren Krankheitsbildern. Die Schmerzen werden immer schlimmer. Auf einer Dienstreise nach Indien sucht er einen ayurvedischen Arzt auf. Ich kann Ihnen nicht helfen, solange Sie nicht mit Ihrer eigenen Persönlichkeit im Reinen sind, sagt der. Körper und Geist sollen eine Einheit sein? Humbug, sagt Tim Parks.
 
Um die Sache abzukürzen: Irgendwann kann Parks nicht mehr. Die Schmerzen werden unerträglich und sein Privatleben geht den Bach runter. Zufällig stößt er auf amerikanische Autoren, die genau das beschreiben und „stillsitzen“ empfehlen. Tim Parks versucht es zunächst alleine und stellt kleine Fortschritte fest „…etwas passiert. Ein Atem atmete sich ganz von selbst, und ich glitt hinunter…“ Später findet er zu anderen Entspannungstechniken bis hin zur Meditation in der Tradition des Buddhismus und am Ende ist er ein neuer Mensch und geheilt. Das ist, wie gesagt, alles nichts Neues. Was das Buch so spannend und interessant macht, ist die Art und Weise, wie Tim Parks dorthin findet und wie er es beschreibt. Er will niemanden bekehren außer sich selbst. Seine Selbstfindung verknüpft er mit Bezügen zur Weltliteratur, zum Beispiel Beckett, zur bildenden Kunst und zur Philosophie. Er weiß das auf eine so intelligente Art zu tun, die auch den Leser zu einer anderen, neuen Betrachtungsweise bestimmter Kunstwerke kommen läßt. Es ist einfach faszinierend, Tim Parks´ Weg zu verfolgen: Ein Skeptiker auf der Suche nach sich selbst. Das Buch gibt viele Denkanstöße und unterhält gleichzeitig in hohem Maße.

Beispielbild

Tim Parks
Die Kunst Stillzusitzen
 
Aus dem Englischen von Ulrike Becker
 
© 2010 der deutschen Ausgabe, Verlag Antje Kunstmann GmbH, München
 
367 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag,
€ 24,90 (D), € 25,60 (A), sFr 37,90 (CH) - ISBN: 978-3-88897-680-3
 
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