Begegnung in der Weltfremde

Martin Heidegger trifft Mascha Kaléko

von Andreas Steffens

© Rowohlt Verlag 1958
Andreas Steffens

Begegnung in der Weltfremde

Martin Heidegger trifft Mascha Kaléko  

(Die Fremde, die Dir selber fremd...)

Die Fremde
die Dir selber fremd,
sie ist:
Gebirg der Wonne,
Meer des Leids,
die Wüste des Verlangens,
Frühlicht einer Ankunft.
Fremde: Heimat jenes einen Blicks,
der Welt beginnt.
Beginn ist Opfer.
Opfer ist der Herd der Treue,
die noch aller Brände
Asche überglimmt und -
zündet:
Glut der Milde
Schein der Stille,
Fremdlingin der Fremde, Du -
Wohne im Beginn.



Dieses Gedicht schrieb Martin Heidegger wenige Tage nach dem unerwarteten Wiedersehen mit Hannah Arendt am 7. Februar 1950 (Arendt/Heidegger, Briefe, Nr. 50; vgl. Ettinger, 96 ff.). Während ihrer zweiten Deutschland-Reise nach Kriegsende hatte sie sich spontan entschlossen, ihn aufzusuchen, als ihr Auftrag, in Deutschland und anderen europäischen Ländern jüdisches Kulturgut aufzuspüren, das die Zerstörungen des NS-Regimes überdauert hatte, nach Freiburg führte. Heidegger schickt es ihr, der großen, vielleicht einzigen, Liebe seines Lebens.


>DAS MÄDCHEN AUS DER FREMDE< - dieser Titel, den er seinem Gedicht gab, ist ein Zitat aus Hannah Arendts erstem Brief, den sie ihm nach ihrer Begegnung geschrieben hatte (Arendt/Heidegger, Briefe, Nr. 48). Und war dort seinerseits indirektes Zitat jenes gleichbetitelten Gedichtes Friedrich Schillers (Schiller, Mädchen, 804 f.), in dem Heidegger zwei Jahrzehnte zuvor seine befremdende Verzauberung durch seine Studentin beschrieben gefunden haben mochte, die er in für den Zauderer ganz untypisch schneller Entschlossenheit zu seiner Geliebten machte.
Die Fremde war es, was sie nun, siebzehn Jahre nach ihrer Trennung 1933, als Hannah Arendt aus Deutschland floh und Heidegger es nicht zu vermeiden wußte, einen Platz in der Politik der Unmenschlichkeit einzunehmen, am stärksten miteinander verband: Fremde voreinander vor allem.
Wie unendlich muß es den Denker, der seit langem in und mit der Scham lebte, sich von dem, was einen wie ihn und eine wie sie auf immer hätte trennen können, nicht freigehalten zu haben, erleichtern, daß sie ihm, in jeder Hinsicht, die Hand reichte. Bis zu ihrem Tod würde sie nicht ruhen, für die Rehabilitation von Heideggers Werk zu wirken, ohne sich über die Fragwürdigkeiten weder dieses Werkes noch der Person seines Autors zu täuschen.

Was ihr und das Leben von Millionen Menschen als Opfer jener Politik, hatten sie überlebt, bestimmte, das hatte Heidegger in seiner ersten öffentlichen Äußerung nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus mit bedacht. In seiner Abhandlung >Über den Humanismus<, die 1949 erschien - und der erweiterte Text eines Briefes ist, den er 1946 an seinen französischen Übersetzer Jean Beaufret richtete, der eine wichtige Rolle dabei spielen sollte, Heideggers Denken in Frankreich nach dem Krieg zum wichtigsten philosophischen Einfluß zu machen - stellte er die Erfahrung der Entfremdung ins Zentrum seiner Kritik an der Bestimmung des Menschen, wie sie die europäische Kultur seit dem Beginn der Neuzeit bestimmt hatte. Sie gipfelt in dem Satz: Die Heimatlosigkeit wird ein Weltschicksal (Heidegger, Humanismus, 27). Das will sagen: jeder, der heute in der Welt lebt, unterliegt dem Schicksal der Heimatlosigkeit, oder noch komprimierter: Mensch sein heißt, heimatlos sein. Heidegger verallgemeinert damit nicht nur die beherrschende Erfahrung der jüngsten Geschichte; er greift in seiner Geschichtsmetaphysik weit darüber hinaus und sieht in dieser Erfahrung eine Bestimmung sich erfüllen, die aller menschlichen Geschichte selbst unabweislich zugrundeliegt. Weil die Wesen, die sich Menschen nennen, im Kern ihres Wesens heimatlos sind, deshalb haben sie Geschichte.


Eine dieser Ungezählten, deren Lebensgeschichte vom Erlebnis der Vertreibung aus allem, was sie als Heimat kannten, gewählt oder zu gerne besessen hätten, bestimmt wurde, war damals noch nicht wieder dorthin zurückgekehrt, wo sie ihre Heimat vor jenen „tausend“ Jahren zu haben geglaubt hatte, die nach endlos langen vierzehn Jahren schon zu Ende waren. Mascha Kaléko kam erst 1955  wieder nach Deutschland, aus der Fremde ihrer Zuflucht, Amerika, in die Fremde ihrer verlorenen zweiten Herkunft.
1907 in Schidlow im habsburgischen Galizien geboren, als Kleinkind über Frankfurt und Marburg in die Reichshauptstadt Berlin gekommen, wo sie aufwächst und sehr schnell erwachsen wird, aus der sie sich 1938 mit ihrem zweiten Mann und ihrem Sohn nach New York retten kann, zieht sie, nach wiederholten Europa-Reisen, die ihr zeigen, daß es in diese Fremde keine Rückkehr mehr geben kann, 1960 mit ihrem Mann, dem Musikwissenschaftler und Komponisten Chemjo Vinaver, nach Jerusalem.
Dort ist sie die unbekannteste Dichterin, ein Rang, den vor ihr Else Lasker-Schüler innehatte, wie Gisela Zoch-Westphal 1977 im Vorwort zu ihrer Edition von Gedichten und Epigrammen aus dem Nachlaß >In meinen Träumen läutet es Sturm< schreiben wird. Nach dem Tod ihres Sohnes 1968 und dem ihres Mannes 1973 endgültig ortlos geworden, stirbt sie während ihres letzten Europa-Aufenthaltes am 21. Januar 1975 in Zürich, wo sie auf dem Friedhof Friesenberg bestattet wird. Eine Emigrantin zeitlebens, heimatlos von Kindesbeinen an. Dieses Leben hatte sich, trotz seiner Verwandlung in Kunst, nicht „bewältigen“ lassen: beendet wurde es vom Magenkrebs, einer, wie man weiß, Pathologie der Weltunverträglichkeit. Ihr kurzer Ruhm war da seit vierzig Jahren vergangen.


Interview mit mir selbst


Ich bin vor nicht langer Zeit geboren
In einer kleinen, klatschbeflissenen Stadt,
Die eine Kirche, zwei bis drei Doktoren
Und eine große Irrenanstalt hat.


Mein meistgesprochenes Wort als Kind war ‘nein’.
Ich war kein einwandfreies Mutterglück.
Und denke ich an jene Zeit zurück:
Ich möchte nicht mein Kind gewesen sein.


Im letzten Weltkrieg kam ich in die achte
Gemeindeschule zu Herrn Rektor May.
- Ich war zwölf, als ich noch immer dachte,
Daß, wenn die Kriege aus sind, Frieden sei.


Zwei Oberlehrer fanden mich begabt,
Weshalb sie mich - zwecks Bildung - bald entfernten;
Doch was wir auf der hohen Schulde lernten,
Ein Wort wie ‘Abbau’ haben wir nicht gehabt.


Beim Abgang sprach der Lehrer von den Nöten
Der Jugend und vom ethischen Niveau -
Es hieß, wir sollten jetzt ins Leben treten.
Ich aber leider trat nur ins Büro.


Acht Stunden bin ich dienstlich angestellt
Und tue eine schlechtbezahlte Pflicht.
Am Abend schreib ich manchmal ein Gedicht.
(Mein Vater meint, das habe noch gefehlt.)


Bei schönem Wetter reise ich ein Stück
Per Bleistift auf der bunten Länderkarte.
- An stillen Regentagen aber warte
Ich manchmal auf das sogenannte Glück...


So lautet das erste Gedicht ihres ersten Buches >Das lyrische Stenogrammheft<, einer Sammlung von Gedichten, die der legendäre Feuilleton-Redakteur der ‘Vossischen Zeitung’ Monty Jacobs 1930 seit regelmäßig von ihr veröffentlichte. Es machte sie über Nacht zur Berühmtheit des literarischen Berlin, als es, zusammengestellt von Franz Hessel, im selben Jahr bereits im Rowohlt Verlag erschien (Kaléko, Stenogrammheft, 8). Da war sie dreiundzwanzig Jahre alt.
Nach Feierabend mischt die junge Büroangestellte sich unter die hauptstädtische literarische Bohème. Sie wird zu einer Figur der Szene, besucht die einschlägigen Cafés, das ‘Romanische’ und das ‘des Westens’, wo sie die Aufmerksamkeit auf sich zieht und in Gesprächen brilliert; sie tritt auf den berühmten Kleinkunstbühnen auf, die en vogue sind, wo sie, vor Lampenfieber fast sprachlos, liest; Stars der Cabarets tragen ihre schnell vertonten Gedichte und Couplets vor.


Angebrochener Abend


Ich sitz in meinem Stammcafé
Es ist schon spät. Ich gähne...
Ich habe Sehnsucht nach René
Und außerdem Migräne.


Der große Blonde an der Bar
Schickt einen Brief. - Beim Lesen
Denk ich: Zu spät. Vor einem Jahr
Wär der mein Typ gewesen.


Die Drehtür surrt und importiert
Ein Dutzend Literaten.
 - Ein Lyriker ruft ungeniert:
‘...Das Schnitzel scharf gebraten!’.


Der Ober blickt impertinent,
Kassiert zwei Weingedecke.
Hierauf verschwindet sehr dezent
Ein Pärchen aus der Ecke.


Der Talmi-Herr sprach sehr gewählt.
Die Talmi-Dame nippte.
...Die beiden geben - knapp gezählt -
Zwei Folio-Manuskripte.


Vom Ping-Pong-Tisch grüßt ein Tenor.
Ich kann den Kerl nicht sehen!
Und nehme mir wie immer vor,
Nie wieder hinzugehen.


Ein Sportgirl zwitschert von Davos.
Ich seufze mit Begründung:
Ich habe nur ein Achtellos
Und eine Halsentzündung.


Jetzt macht die Jazzkapelle Schluß.
Der Asphalt glänzt vom Regen.
- Ich nehme einen Omnibus
Und fahr dem Schlaf entgegen...


(Kaléko, Stenogrammheft, 24 )


Von Anfang an ist das Lebensthema präsent: die Fremdheit der Welt.
Am bedrückendste scheint sie sie als Fremdheit selbst der einander nächsten Menschen zu erfahren.


Der nächste Morgen


Wir wachten auf. Die Sonne schien nur spärlich

Durch schmale Ritzen grauer Jalousien.
Du gähntest tief. Und ich gestehe ehrlich:
Es klang nicht schön. - Mir schien es jetzt erklärlich,
Daß Eheleute nicht in Liebe glühn.


Ich lag im Bett. Du blicktest in den Spiegel,
Vertieftest ins Rasieren dich diskret.
Du griffst nach Bürste und Pomadentiegel.
Ich sah dich schweigend an. Du trugst das Siegel
Des Ehemanns, wie er im Buche steht.


Wie plötzlich mich so viele Dinge störten!
- Das Zimmer, du, der halbverwelkte Strauß,
Die Gläser, die wir gestern abend leerten,
Die Reste des Kompotts, das wir verzehrten.
...Das alles sieht am Morgen anders aus.


Beim Frühstück schwiegst du. (Widmend dich den Schrippen.)
- Das ist hygienisch, aber nicht sehr schön
Ich sah das Fruchtgelée auf deinen Lippen
Und sah dich Butterbrot in Kaffee stippen -
Und so was kann ich auf den Tod nicht sehn!


Ich zog mich an. Du prüftest meine Beine.
Es roch nach längst getrunkenem Kaffee.
Ich ging zur Tür. Mein Dienst begann um neune.
Mir ahnte viel -. Doch sagt ich nur das Eine:
‘Nun ist es aber höchste Zeit! Ich geh...’ 


(Kaléko, Stenogrammheft, 27)


Die erotische Ernüchterung am Morgen danach steht für die allgemeine Ernüchterung des Lebens, das nicht umhin kann, immer wieder Erwartungen entstehen zu lassen, die auch dann enttäuscht werden, und manchmal gerade dadurch, daß sie sich erfüllen.
Davon spricht der


Katzenjammer-Monolog

Zuweilen möchte man aus sich heraus
Und kann die Tür ins Freie doch nicht finden.
Dann schnüffelt man vielleicht mal nach den Gründen
Und kriecht noch tiefer in sein Schneckenhaus.


Man müßte vieles tun. Und manches lassen.
Und kann das eine wie das andre nicht.
Man denkt an manche unerfüllte Pflicht,
Bis sich die Dinge dann mit uns befassen.


So vieles tut man rasch in Acht und Bann
Mit Augen, die geschlossen schon erblinden.
Doch auch das Schicksal hat so dann und wann
Auf unserm Konto Unterlassungssünden.


Mitunter scheints, man sei nun endlich da.
- Am Ziel, von dem man schüchtern nur geträumt hat -
Da plötzlich merkt man, daß man was versäumt hat,
Ein dummes Etwas nur. Beinah...beinah.


Wenn man ein zweites Mal geboren würde,
Dann finde man das Leben anders an.
- Vielleicht, daß dann so manches anders würde...
(Vorausgesetzt, daß man vergessen kann -)


Daß man vergessen kann, was man erfahren.
Man horcht sehr oft zu viel in sich herum.
Am besten wär es, klug zu sein und stumm.
Man ist zuweilen alt mit zwanzig Jahren.


 

Erstaunlich, fast beklemmend, mit welcher Klarheit eine Zwanzigjährige den Skandal des Geborenwordenseins nicht nur zu erleben, sondern ihm auch Ausdruck zu verleihen fähig ist.
Man hat diese Verse von Unspektakulärem, von im besten Sinne Banalem, damals und später, als sie für kurze Zeit in den 50er und noch einmal in den 70er Jahren wiederentdeckt wurden, um dann aus dem literarischen Bewußtsein zu verschwinden, mit dem Etikett der ‘Gebrauchslyrik’ versehen: gefällig gereimte Alltagssensationen. Von der Warte ästhetischen Hochmuts aus, könnte man boshaft sagen, ihre Gedichte seien noch hübscher als ihre Autorin damals war.
Zu schnell läßt man sich von der Leichthändigkeit, der berlinischen Schnodderigkeit, die gerne ins Sentimentale abrutscht, um sich ebenso rasch wieder ins Burschikose in Sicherheit zu bringen, täuschen und verwechselt eine ästhetische Oberfläche mit künstlerischer Inhaltsdürre.
Aber da ist mehr am Werk als etwas verspäteter jugendlicher Weltschmerz einer jungen Begabung.
Eine Rezensentin nennt Mascha Kaléko in der kurzen Zeit ihrer zweiten Wiederentdeckung eine Philosophin der kleinen Leute. Ein etwas prekäres Lob, tatsächlich ist das gönnerhaft-herablassend, und etwas seltsam, daß der Verlag dieser Zeit, dtv, ausgerechnet damit warb. Da hätte es andere Referenzen gegeben, von Alfred Polgar oder Thomas Mann.



Diese Gedichte und die in den folgenden Jahrzehnten entstehenden sind Miniaturen einer bestürzend tiefsinnigen künstlerischen Anstrengung: des Bemühens um Verwandlung von Unzumutbarem, der Suche nach in Erträglichkeiten. Mit schüchternem Understatement und souveräner Bescheidenheit vollzieht eine Melancholikerin in ihnen Akte der lösenden Anklage der Unzumutbarkeiten unseres Daseins.
Warum sollte nicht Bedeutendes entstehen können, wenn ‘kleine Leute’ philosophieren?
Den erstaunlichsten Beleg liefert die Figur, die nicht wenige unter den Großen der Philosophie des 20. Jahrhunderts für ihren größten halten wollen, teilt man die Charakterisierung, die Hans Blumenberg von Heidegger gab, den er schlicht die Inkarnation des kleinen Mannes nannte (Blumenberg, Parteibeitrag, 79).
Man käme nicht so leicht darauf, eine Beziehung zu vermuten zwischen dem Werk des Philosophen des Seins, dessen Denken nichts anderes war als ein lebenslanges Aufbegehren gegen Unzumutbarkeiten des Daseins, die er nicht in dessen zivilisatorischen Ordnungen suchte, sondern in den Bedingungen fand, die die umfassendere Ordnung der Welt selbst ihm auferlegen, und dem Werk dieser jüdischen Lyrikerin. Aber es gibt sie.

Am 6. Juni 1950 trug Heidegger auf Einladung der Bayrischen Akademie der schönen Künste vor. Es war seit Kriegsende der erste öffentliche Auftritt des Verfemten und nach wie vor mit Lehrverbot Belegten. Der Ort ist bezeichnend für Heideggers Nachkriegswirkung ebenso wie für die Wendung in seinem Denken. Während seiner Kriegseinsamkeit hatte er sich endgültig von der akademischen Philosophie abgewandt, der er keine denkerische Bedeutung mehr beimaß. Dies war ganz im Einklang mit seinem Programm eines Denkens, das mit der Tradition der abendländischen Metaphysik brechen und eine andere Weise des offenen Philosophierens jenseits des Horizontes zivilisatorischen Nutzens eröffnen sollte. Modell und Milieu der Erprobung eines solchen anderen Denkens des Wesentlichen wurde für ihn nun endgültig die Kunst, die Dichtung vor allem. Besonders in einem sehr eigenwilligen Bedenken Hölderlins, später einiger Neuerer wie Trakl und Rilke entwarf er die Linien seiner anderen Philosophie des Seins. Heidegger suchte zwar nicht als Person, aber intellektuell die Nähe zu den Künstlern.
So mußte es ihm eine große Genugtuung sein, aus deren Reihen Anerkennung und Bestätigung dieser demonstrativen Nähe zu erfahren. Am weitesten ging darin Erhart Kästner. In seinem Bericht über Heideggers Münchener Vortrag rühmte er eben diese Nähe. Einige Jahre später dann tat er den Schritt, den Heidegger für sich selbst wohl längst getan hatte, und bescheinigte dem Philosophen eigenes Dichtertum: man solle ihn lesen wie Dichtung (Kästner, Offener Brief, 46).

Da war zwischen ihm und Heidegger eine späte Freundschaft entstanden, die für Heideggers Rückkehr ähnlich wichtig wurde wie die Hannah Arendts. Als Kästner 1956 Mitglied der Berliner Akademie geworden war, betrieb er Heideggers Aufnahme, zu der es im Jahr darauf kam, und zwar in der von Hans-Egon Holthusen geleiteten Sektion für Dichtung.
Zu der Zeit befanden sich Mascha Kaléko und ihr Mann auf ihrer zweiten Europareise. Zu den zahlreichen Auftritten, die sie nun auch wieder in Deutschland hatte, gehörte Anfang 1959 eine Lesung in der Berliner Akademie. Bei dieser Gelegenheit trifft sie Martin Heidegger. Dieser ist von ihr auf Anhieb fasziniert. So sehr, daß er ihr am 27.2. 1959 schreibt, und ihr einige Wochen darauf widmet er ihr ein Portraitfoto. Beides, muß man wissen, Gesten höchster Anerkennung und Auszeichnung, von denen der spröde Philosoph sparsamsten Gebrauch machte.
Der Brief ist nicht veröffentlicht und ob und wie die beiden miteinander umgegangen sind, ob es bei Partygeplauder blieb oder es zu ernsthaftem Austausch kam, ist nicht überliefert. Das einzige Zeugnis, das es gibt, ist ein indirektes Zitat aus diesem Schreiben, mitgeteilt in Gisela Zoch-Westphals Biografie: Sie wisse alles, was Sterblichen zu wissen gegeben, schreibt er ihr (Zoch-Westphal, 180).
Nicht eben viel, wird man meinen. Da will einer, der zu Pathos und hohem Ton konstitutionell neigt, seine Bewunderung unmißverständlich deutlich werden lassen. Fast ist man geneigt, den Mann hier mehr wagen zu finden, als der Denker sich nüchternen Sinnes leisten sollte.
Mag sein. Und doch hat es dieses Sätzchen in sich.
Es signalisiert, daß Heidegger eine Geistesverwandte jener Erfahrung getroffen zu haben überzeugt ist, deren Bedenken sein gesamtes Leben gewidmet war.


Er spricht von Sterblichen, nicht einfach von Menschen. Das liegt nicht nur an der Todesfixierung in seinem Denken, die ihn den Menschen als das Wesen hat deuten lassen, das nur aus dem Wissen um sein Sterbenmüssen existieren könne. Es ist mehr: die Sterblichen, das ist der Inbegriff der griechischen Anthropologie, wie sie in der antiken Tragödiendichtung entfaltet ist. Menschen sind die, die keine Götter sind: die, die nicht unsterblich sind.
In seiner lebenslangen Suche nach den Ursprüngen der Selbsterfahrung des europäischen Menschen,  dessen kontinuierlichstes Zeugnis die Künste, die Literatur, die Dichtung vor allem bieten, ist Heidegger immer wieder in die griechische Frühe zurückgekehrt. In der Tragödie fand er die unüberbietbare Bestimmung dessen, woran sich jedes Denken abzumühen hat, das einer Erkenntnis des Menschseins gewidmet ist: die Erfahrung der Weltfremde. Menschen sind die Wesen, die die Welt, in der sie ihr Leben zu führen haben, nicht als ursprünglich ihnen zugedacht erleben. Sie ist nicht so, daß man sich als Mensch in ihr uneingeschränkt beheimatet fühlen könnte.
Nichts anderes haben die Tragödien ihrem Publikum auf der Bühne der Polis immer wieder vorgeführt, zugespitzt im Werk des Sophokles. Das Chorlied aus dem Zweiten Akt von dessen >Antigone<, das den Menschen als das ungeheuerste Wesen bezeichnet, das es gebe, hat Heidegger in beinahe übersteigerter Identifikation übersetzt, und publizistisch behandelt wie ein eigenes Werk, indem er diese Übersetzung wiederholt als selbständigen veröffentlichte. Vielfältig das Unheimliche, nichts doch / über den Menschen hinaus Unheimlicheres ragend sich regt (Heidegger, Chorlied, 35 f.).

Dieser Text wurde zum Scharnier für die berüchtigte ‘Kehre’ in Heideggers Denken. In der >Einführung in die Metaphysik< von 1943 führt ihn die Auslegung der >Antigone< zu der entscheidenden Wendung, auf die Erkenntnis des Menschenwesens aus den Weltverhältnissen der Menschen zu verzichten und sie einer spekulativen Bestimmung eines allumfassenden, alles in sich enthaltenden und aus sich entlassenden Seins zu überantworten, das von keinem Denken erkannt, sondern nur in den Intuitionen der Dichtung erahnt werden könne. Die Sprache kann nur aus dem Überwältigenden und Unheimlichen angefangen haben, im Aufbruch des Menschen in das Sein. In diesem Aufbruch war die Sprache als Wortwerden des Seins: Dichtung (Heidegger, Metaphysik, 131).


Worauf es in dieser Wendung vor allem ankommt, ist die Zumutung, die Heidegger dem sein Wesen denkenden Menschen auferlegt, in die Zumutung einer Unergreifbarkeit dieses Seins als des unergründlichen Bedingungsgrundes seines Daseins in der Welt einzuwilligen. Das aber ist nicht weniger als die Aufkündigung der europäischen Neuzeit, die in nichts anderem bestand und bis heute besteht, als der Erhebung des Anspruchs auf eine durch menschliche Eigentätigkeit zu erlangende menschengerechte Einrichtung der Welt. Heideggers Philosophie ist der unermüdliche Appell, auf diese Unmöglichkeit Verzicht zu leisten: sich in das Unheimliche und Überwältigende der Welt zu fügen.
Es ist dies die Geste einer Erneuerung der griechischen Schicksalsfügsamkeit, die dem Weltverhältnis des Menschen das Urteil fällt, wie Sophokles es im Chorlied seines >Ödipus auf Kolonos< gesprochen hat: Nicht geboren zu sein - was ist / Höhren Werts? Aber lebst du schon - / Dorthin wieder, woher du kamst, / Schleunigst zu gehen, ist das nächste Beste!
Oder, in Heideggers Worten: Nicht-dasein ist der höchste Sieg über das Sein. Dasein ist die ständige Not der Niederlage und des Wiederaufspringens der Gewalt-tat gegen das Sein und zwar so, daß die Allgewalt des Seins das Dasein zur Stätte seines Erscheinens ver-gewaltigt (wörtlich genommen) und als diese Stätte umwaltet und durchwaltet und damit im Sein einbehält (Heidegger, Metaphysik, 136).
In seiner Existenz als Gewalttat einer Entäußerung des Allumfassenden, für das der unbestimmbare Begriff des ‘Seins’ steht, kann der Mensch sich nur als Wesen der Weltlosigkeit erfahren, als ein Wesen, das dort, wo es ist, nicht hin gehört, und dort, wo es hin gehört, nicht ist.
Diese Erfahrung zu bezeugen, zieht sich als basso continuo durch die Geschichte der europäischen Künste.
In sie gehört das Werk der Mascha Kaléko wie wenige. Ihr letztes Wort, die poetische Summe ihres Lebens bekräftigt eben dies, in gelassener Endgültigkeit.


Auto/r/biografisches


Ich war ein kluges Embryo,
Ich wollte nicht auf die Welt.


Nach zehn Monaten erst und
Vollen zehn Tagen
Erbarmte ich mich der jammernden Mutter
Und suchte den Weg ins Unfreie.


Nicht weniger als hundertachtzig Stunden
- So hat’s die Großmutter seufzend berichtet -
Stand unser Haus im Zeichen des Todes.


Ich habe mich später manchmal gefragt,
Wie Freud aus Wien das wohl beurteilt hätte
Oder Professor Jung an der Limmat.


Genug, an einem Junimorgen,
Im Monat der Rosen, im Zeichen der ‘Zwillinge’,
Bei Glockengeläut um fünf Uhr früh
Gab ich zögernd den Widerstand auf
Und verließ mein provisorisches Domizil.


Ein Fremdling bin ich damals schon gewesen,
Ein Vaterkind, der Ferne zugetan,
Den Zugvögeln und den Sternen.


Auf einem Kinderbildnis
Reiße ich mich wild mit weitgereckten Schwingen
Aus den Armen der Amme.


Früh schon gefiel mir das Anderswo.
Mit knapp fünf Jahren lief ich endlich fort.
Man hat mich aber immer eingefangen.
Leider.


Nein, es hat mir gleich nicht gefallen
Hier unten.


(Kaléko, Träume, 102)


Geschrieben hat Mascha Kaléko diese Summe ihres Lebens kurz vor ihrem Tod, im Bewußtsein, daß er bald eintreten würde, im Einverständnis. Der Plan einer Rückkehr nach Berlin - in Jerusalem war sie nach dem Tod ihres Mannes völlig bindungslos geworden - ließ sich nicht mehr verwirklichen. Die Todesgewißheit nahm Mascha Kaléko klaglos an und schien erleichtert, daß es dem Ende zuging, schrieb ihre Biographin und Nachlassverwalterin (Zoch-Westphal, 201). So, als verbrächte sie ihre letzte Lebenszeit in der Erwartung einer Korrektur eines ursprünglichen Irrtums.

Das ‘Nein’, das die Zwanzigjährige als das meistgesprochene Wort ihrer Kindheit bezeichnete, steigerte sich im Rückblick auf das sich vollendende Leben zur Erinnerungsimagination der Geburtsverweigerung, der Ablehnuung des Geborenwerdens. Einem in jeder Hinsicht in der Fremde verbrachten Leben erwies Fremdheit sich als Wesensbestimmung nicht nur dieses einen, eigenen Lebens, sondern des menschlichen Lebens überhaupt: Fremdheit in der Welt ist seine Bestimmung.
Und hier begegnen sie einander, wie auch immer sonst ihre persönliche Begegnung geartet gewesen sein mag, der Dichter-Philosoph und die philosophische Dichterin.
Daß jener als zur Tat drängender Denker in einem Augenblick furchtbarer Verblendung sich auf die Seite einer weltlichen Macht schlug, die die Gewalttätigkeit des Daseins, das er so unermüdlich bedachte bis an sein Ende, in ungekannte Dimensionen der Unmenschlichkeit trieb, und diese zu dem Kreis derer gehörte, die von dieser Macht zur Vernichtung bestimmt wurden, das markiert einen humanen Skandal, der über die Individuen unendlich weit hinaus und in die Tiefen unserer Kultur reicht, deren Bestimmung nicht abgeschlossen ist.
Im Zeugnis dieses Skandals des Unzumutbaren sind diese beiden, die nichts miteinander verbinden konnte, vereint.

 
Literatur:
Arendt, Hannah / Heidegger, Martin, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, aus den Nachlässen hg. Von Ursula Ludz, Ffm 1998, Nr. 50: Martin Heidegger für Hannah Arendt: Fünf Gedichte, 79 f.
Blumenberg, Hans, Der Parteibeitrag, in: ders., Die Verführbarkeit des Philosophen, Ffm 2000, 75-79
Ettinger, Elzbieta, Hannah Arendt Martin Heidegger. Eine Geschichte, München 1995
Heidegger, Martin, Über den Humanismus, Ffm 1949
Heidegger, Martin, Chorlied aus der Antigone des Sophokles, in: ders., Aus der Erfahrung des Denkens 1910-1976, Gesamtausgabe Bd. 13, Ffm 1983, 35-36
Heidegger, Martin, Einführung in die Metaphysik (1943), Tübingen 1953
Kästner, Erhart, Offener Brief an die Königin von Griechenland. Beschreibungen, Bewunderungen, Ffm 1973
Kaléko, Mascha, Das lyrische Stenogrammheft, Neuausgabe als Rowohlt-Taschenbuch, o.O., 1956
Kaléko, Mascha, In meinen Träumen läutet es Sturm. Gedichte und Epigramme aus dem Nachlaß, hg. von Gisela Zoch-Westphal, München 1977
Schiller, Friedrich, Das Mädchen aus der Fremde, in: ders., Werke in drei Bänden, ed. H.G. Göpfert, Bd. II, Gedichte seit 1788, 671 ff.; 804 f.
Zoch-Westphal, Gisela, Aus den sechs Leben der Mascha Kaléko, Berlin 1987


© Andreas Steffens - Vortrag in der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft Wuppertal, 06.05.2002

Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007