Eine literarische Wiederentdeckung

Gerhard Nebel - "Zwischen den Fronten – Kriegstagebücher 1942-1945"

von Johannes Vesper
 Die Kriegstagebücher
Gerhard Nebels
- wiederentdeckt
 
 
Die spezifisch deutsche literarische Aufarbeitung des grauenhaften 1. Weltkriegs (schätzungsweise 17 Millionen Tote) stammt von Ernst Jünger. „In Stahlgewittern“ ist das Tagebuch seiner Erlebnisse in Frankreich. Der pathetische Titel kündigt bereits vom heldenhaften Kampf  der Soldaten, von der trunkenen Stimmung der Jugend 1914, die, angefeuert von der großen nationalen Bewegung, sehnsüchtig mitmachen wollte bei dem Wahnsinn 1914-1918 und die Kriegsgefahr begeistert suchte (Stichwort: Langemarck). Nach dem 2. Weltkrieg (schätzungsweise 55 Millionen Tote)  erscheint 1948-1950 von Gerhard Nebel (1903-1974) sein dreibändiges Tagebuch der Kriegszeit. Von Pathos und Heldentum ist da überhaupt nicht die Rede. Mit Haß auf den Despoten und innerlich unbeteiligt am Krieg wollte er diesen nur überleben. Aktiv war er nicht am Widerstand beteiligt. Wie er dachten Hunderttausende.
Gerhard Nebel wird im Februar 1942 infolge eines lockeren Artikels über den Kommiß-Ton bei der Luftwaffe und die in der Wehrmacht herrschenden soldatischen (Un-)Sitten vom Gefreiten und Dolmetscher zum Bausoldaten degradiert, muß Paris verlassen, verliert damit seine Freundschaften und gesegneten Mußestunden, die er in Paris mit einzelnen intellektuellen Fliegern und Offizieren (u.a. Ernst Jünger) erlebt und geschätzt hatte, und spricht von seiner hirnverbrannten Torheit, die Despotie mit einem unbedachten Artikel herausgefordert zu haben.     
 
„Die Lage, der ich entgegengehe, erscheint mir unangenehm“. So beginnen diese Tagebücher. Als Bausoldat wird er  auf eine Insel des Kanal-Archipels westlich von Cherbourg versetzt. Dort muß er körperlich arbeiten, wird aber auch immer wieder als Dolmetscher in Anspruch genommen. In seiner Freizeit liest er Mommsen und Victor Hugo, beschreibt die stimmungsvolle Insellandschaft mit Kirchen, Kirchhöfen und ihren Menhiren und  spricht dem französischen Wein gerne und ausgiebig zu. Was im Osten angerichtet wurde, ist bei den Soldaten an der Kanalküste bekannt. Seine Überlegungen zum preußischen Drill, der den Soldaten entwürdigt, ihm Qual verursacht und verursachen soll, was dem Kommiß zur Wache eingefallen ist, wie wichtig dieser hohle  Stumpfsinn von Offizieren bis hinauf zum General genommen wird, das hält G. Nebel für Wahnsinn. Über die bei der Wehrmacht verbreitete und mit Vorschriften manifestierte Kombination aus subalterner Dummheit und Grausamkeit erregt er sich, glaubt aber nicht an die Identität von Volk und Regime und ist sich der Gefahr, die aus der Identität von Politik und Verbrechertum resultiert, bewußt. Solange man noch Wein trinken kann, ist die Lage jedoch nicht völlig hoffungslos: Jenseits des Krieges erwartet Gerhard Nebel eine Welt der Freiheit, der Bildung und der Humanität.
 
1943 wird er nach Italien versetzt, wo er als Dolmetscher für den Stab der Luftwaffe mit der aufgeräumten Anarchie der Italiener gut zurecht kommt. „Auf ausonischer Erde“ organisiert er Wein, Früchte, Brot und Eier für soldatische Feste, besorgt italienische Frauen für Bordelle der Luftwaffe, übersetzt Liebesbriefe der Landser und Flieger ins Italienische, hat selbst verschiedene Affären, kommentiert natürlich Affären der Offiziere, wird beschossen, auch bombardiert, und versucht zu überleben, auch wenn ihn die „kochende Angst, die allen Inhalt der Seele verdampft und in deren Dunkel alle Farbe verlosch“ überfällt, sobald ihm Steine, Äste, Felssplitter um den Kopf fliegen und die feindlichen Jabos (Jagdbomber) dicht über den Köpfen dröhnen. Dem Kradmelder bietet der Stahlhelm, der wie Butter von den kleinen Fetzen der Splitterbomben durchschnitten wird, keinen Schutz. Das Hirn spritzt aus dem Schädel. Nebel sieht und beschreibt es. Andererseits bleiben Gerhard Nebel aber schöne Frühlingstage mit weiten Blicken über die italienische Abruzzenlandschaften auf türmereiche Städte ebenso unvergeßlich wie noch schönere Nächte, in denen  unzählige glühende Johanniskäfer durch samtenes Dunkel tanzen, nachdem die Nachtigallen verstummen und die Grillen das Nachtkonzert eröffnen. Jugendliche Partisanen muß er in Notwehr mit dem Maschinengewehr abwehren. Auf der Lagunenbrücke  Venedigs wird er als Fußgänger von Jagdbombern überflogen, die den zwischen den Buhnensteinen Liegenden aber für eine Leiche halten und Munition sparen. Im Juni 1944 - liest man- werden deutsche Geschütze unter der Aufsicht von schwankenden Landsern, die Wein- und Schnapsflaschen schwenken, von Ochsenkarren durch die Po-Ebene gezogen. Mal wieder verliebt, verliert er sich zuletzt an Antonia, wollte sich aber in den unsicheren Zeiten nicht an die Studentin binden und entweicht ohne Abschied, womit er wohl nicht nur sie, sondern vor allem auch sich selbst verraten hat. Endlich gerät er in amerikanische Kriegsgefangenschaft, erkrankt schwer und empfindet das Grauen in den Lazaretten Norditaliens entsetzlicher als die ausonischen Tage hinter der Front. Von Hitlers Tod erfährt er in Cortina d´Ampezzo und feiert das Ende der Bestie mit Sekt.
 
Gerhard Nebel, 1903 geboren, hatte Philosophie und Altphilologie studiert, u.a. bei Heidegger und Jaspers. Politisch treibt es ihn als Berufsanfänger Ende der Zwanziger Jahre zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) und er setzt sich auch handgreiflich mit den Nationalisten auseinander (Narbe neben dem linken Auge). Mit seinem dreibändigen Kriegstagebuch schreibt sich Nebel in die literarische Öffentlichkeit Nachkriegsdeutschlands. Er hält Vorträge über Ernst Jünger, der nach dem Krieg zunächst wegen eines Verbots der Alliierten selbst nicht publizieren durfte und schreibt ein Buch über ihn. Bald aber streiten sich die beiden, die zunächst in gleicher Weise vom Publikum wie auch der Kritik geschätzt wurden, kämpfen gegeneinander und beleidigen sich. Skandalös, wie Ernst Jünger die Übersetzung von Nebels  „Hesperiden“ ins Französische gezielt verhindert hat. 1950 erhält Nebel den Eduard von der Heydt-Preis der Stadt Wuppertal. Hier hat er von 1950 bis 1955 als Studienrat am Gymnasium in der Bayreuther Straße gearbeitet. In Wuppertal gründet er, der promovierte Philosoph, die Gesellschaft „Der Bund“, in der zusammen mit der Elite der Zeit - Ernst Jünger, Gottfried Benn, Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Jürgen Habermas, Arnold Gehlen, Carl Schmitt u.a. waren Gäste - die geistige Erneuerung und Orientierung nach dem Nationalsozialismus diskutiert wird. Durch Aufklärung wollte man nachhaltig gegen „Gastfeindschaft, Barbarei und Dehumanisierung“ wirken (Zitat Michael Okroy s.u.).  Gerhard Nebel schreibt im Laufe seines Lebens etliche Bücher und regelmäßig in der FAZ. Mit seinen Beiträgen macht er sich nicht nur Freunde. Thomas Mann konnte er nicht leiden. Zu dessen 75. Geburtstag erscheint am 6. Juni 1950 von G. Nebel ein bösartiger Artikel in der FAZ. Über Wuppertal schreibt er ein wenig freundlicher: "Wuppertal ist rauh und knochig, aber treu. Gewebe sind hier nicht wie anderswo Lügengewebe, Garne sind keine Betrugsschlingen. Die Solidität ist nicht Schwerfälligkeit, sondern Stärke - man hat sich nicht für den Oberflächenschmelz, sondern die Tiefenstruktur entschieden, nicht für die geschwinde, huschende Intelligenz, sondern für zähes Festhalten und bohrende Berechnung. Den Verlust an Charme und Lieblichkeit nimmt man, wenn man sieht, was in der Nachbarschaft mit diesen Kategorien getrieben wird, gern in Kauf." (zitiert nach Christine Hummel, 2004, s.u.). Georg Nebel starb 1974. Er wurde in Braunsbach-Steinkirchen (Landkreis Schwäbisch-Hall)  beerdigt.         
 
Die Kriegstagebücher Gerhard Nebels (ursprünglich dreibändig) wurden von Michael Zeller, Vo der Heydt-Preisträger 2008, wiederentdeckt. Der heutige Leser des Werkes ist fasziniert von der Authentizität und Frische der Sprache, hinter der die gesamte Kultur des alten Europa immer wieder aufblitzt, von Nebels Humor, seinem Zynismus und der Souveränität des Gebildeten. Der Schriftsteller Michael Zeller hat das vergessene Werk von historischen Schlacken befreit, gekürzt, mit einem sehr informativen Nachwort zu Biographie, Werk und Rezeptionsgeschichte versehen und neu herausgegeben. Das Buch wurde von der Süddeutschen Zeitung im Januar 2011 auf Platz 3 (von 10) der Liste der Sachbücher des Monats gesetzt.
 

Gerhard Nebel – „Zwischen den Fronten – Kriegstagebücher 1942-1945“
- Herausgegeben von Michael Zeller
© 2010 Wolf Jobst Siedler Verlag jr. Berlin, 1. Auflage
282 Seiten, ISBN 978-3-937989-69-3      
Weitere Informationen unter: www.wjs-verlag.de    
 
Literatur:
1. Dr. Christine Hummel: Ungeschminktes Wuppertal, 2004 Bergische Universität  (http://www.presse-archiv.uni-wuppertal.de/html/module/medieninfos/archiv/2004/1907_stadtjubilaeum_collage.htm)
2. Michael Okroy: „Lebendig. ungeschminkt und voller Geist. Ein kulturgeschichtlicher Spaziergang durch das Wuppertal, der 1950er Jahre.“ Vortrag am 24.11.2010 in der Citykirche Elberfeld)
 
Nachbemerkung mit Notizen zu Michael Zeller:
Michael Zeller wurde 1944 geboren und lebt seit 1998 in Wuppertal. 1978 veröffentlichte er seinen ersten Roman („Fehlstart-Training“). Nach seiner Promotion 1974 habilitierte er sich 1981 in Erlangen. Michael Zeller erhielt zahlreiche Auszeichnungen, so z.B. 1984/85 das Atelierhaus Stipendium Worpswede, als dessen literarisches Ergebnis sein Roman über Paula Moderson-Becker entstand („Die Sonne! Früchte. Ein Tod“,  4. Auflage 2007). 1997 erhielt er das Schriftstellerstipendium der Robert-Bosch-Stiftung und lebte ein Jahr in Krakau. In „Cafe Europa“ und „Die Reise nach Samosch“ hat er diesen Aufenthalt literarisch verarbeitet. 2006 bereiste er das kriegszerstörte Bosnien und hielt seine Impressionen in "Granaten und Balladen" fest. 2008 erhielt er den Von der Heydt-Preis der Stadt Wuppertal, und es erschien sein achter Roman („Der Falschspieler"). Seit 2008 arbeitet Michael Zeller literarisch mit Schülern. Inzwischen sind vier „Schulhausromane“ entstanden. Der jüngste Roman „Ein Schuss Jugendliebe“ wird im Mai 2011 erscheinen. Michael Zeller publiziert auch in den Musenblättern und im Wuppertaler NordPark Verlag.
Weitere Informationen unter:
www.nordpark-verlag.de
 
Redaktion: Frank Becker