Ist „tot“ ein Kriterium?

Beim Bochumer „Dead or Alive“-Slam schlagen die Weimarer sich wacker

von Martin Hagemeyer
Ist „tot“ ein Kriterium?
 
Beim Bochumer „Dead or Alive“-Slam
schlagen die Weimarer sich wacker
 
„Drama rockt, soviel steht fest. Slammer Schiller aus Weimar an der Ilm konnte beim „Dead or Alive“-Slam im Schauspielhaus Bochum mit seinem gereimten Hit vom „Taucher“ den jüngeren Kollegen Andy Strauß zwar nicht toppen und landete mit seinem Team knapp auf Platz 2. Aber erst in der Bonusrunde.“
 
Keine Sorge: Dieser Einstieg soll nur andeuten, daß „Dead or Alive“-Slams ein Wagnis sind. Größen der Literaturgeschichte werden auf einen Poetry Slam geschickt und der pointengierigen Meute zum Fraß vorgeworfen? So mag mancher schaudernd denken, wenn er von dieser Variante des modernen Dichterwettstreits hört, die nun in Bochum zum ersten Mal in NRW auf einer Theaterbühne veranstaltet wurde ­– gut gelaunt moderiert vom einstigen Slam-Vizeweltmeister Sebastian23. Konzept: Vertreten durch Schauspieler, treten verstorbene Autoren mit ihren Texten in den direkten Vergleich mit Stars der heutigen Slammer-Szene; und wie dort üblich entscheidet eine Publikumsjury, wer der Beste ist – nicht nur in puncto Textqualität, sondern auch bei der „Performance“. Das muß Bedenken herausfordern.
Umgekehrt gilt das ja immer weniger: Auch im bestens gefüllten Bochumer Schauspielhaus zeigt sich, daß die sogenannten „Rampensäue unter den Gegenwartsschriftstellern“ inzwischen weithin Anerkennung genießen und sich die Frage: „Ist das wirklich Literatur?“ vielen Textfreunden längst nicht mehr stellt. Deutlich übrigens auch: Poetry Slams sind keineswegs (mehr) nur etwas für Studenten. Immer wieder sieht man im Publikum den Zwanzigern deutlich entwachsene Gesichter; und als eine Zuschauerin auf die Frage, warum gerade sie zur Jurorin tauge, antwortet: „Weil ich Kunstgeschichte studiert habe“, geht ein nicht nur freundliches Raunen durch den Saal. Auf beifällige Zustimmung stößt hingegen der Jury-Aspirant, der sich empfiehlt mit der Auskunft: „Ich habe Nasenbluten.“
 
Eine Erkenntnis des Abends ist: Ob Texte von Toten auf eine Slam-Bühne gehören, ist eine Frage der Auswahl. So manchem poetischen Werk würde man damit Gewalt antun – und dem Publikum womöglich auch. Hier hat sich die Dramaturgie des Hauses in der Tat Gedanken gemacht: Goethe und Schiller sind in Bochum dabei, aber auch Djuna Barnes und die Dadaistin Elsa von Freytag-Loringhoven.  Alle qualifizieren sich aus unterschiedlichen Gründen für das Show-Format.
Ensembleschauspielerin Anke Zillich erweckt die amerikanische Romanautorin Barnes als feine, gemeine Lady im schwarzen Kostüm zum Leben. Ihren eleganten Zynismus zur Frage „Was ist Lebensart beim Sterben?“ könnte man sich leicht modernisiert auch gut von spöttischen Autoren unserer Tage vorstellen: „Eine Blondine sollte sich vorzugsweise vor einem Gegenstand der italienischen Frührenaissance erhängen“; ein Gasbrenner hat dagegen „keinen Chic“. Wem es neu war, daß Literaten auch in früheren Zeiten bösartig sein konnten, lernt heute, daß sie auch wild sein können: Johann Wolfgang Goethe kommt, in Gestalt von Ronny Miersch, offenbar nicht ganz nüchtern auf die Bühne und ist ganz Stürmer und Dränger. Zu seinem Gedicht „Willkommen und Abschied“ überrascht er bei fetziger Musik, die Flasche in der Hand, mit einer Disco-Tanzeinlage (die ehernen Slam-Regeln „Keine eingespielte Musik!“ und „Keine Requisiten!“ scheinen für Dichterfürsten nicht zu gelten). Die eher unbekannte Baroneß von Freytag-Loringhoven, in den 1920er Jahren Teil der Pariser Künstlerszene, wiederum wird slam-fähig durch Absurdität: Gespielt von Friederike Becht verkündet sie Sätze wie „Hände weg von der höheren Schönheit der Mortadellawurst!“ und „Du kannst eine ausgewählte Siegelverpackung als Papagei anlernen“ (wenn der Berichterstatter das „richtig“ „verstanden“ hat!).
 
Aber quod licet Alive, non licet Dead, so scheint es: Die verblichene Baronin kann mit ihren Ausführungen nicht reüssieren und erhält von den sieben ausgewählten Juroren im Publikum insgesamt die wenigsten Punkte (mehrfach nur 5 von 10 möglichen). Andy Strauß hingegen, der den Typ „wahnsinniger Freak“ in der Fraktion der Lebenden abdeckt, wird am höchsten bewertet und sichert dieser am Ende den Triumph. Mit verwegener Mähne erzählt er, er sei „eigentlich nicht so der Mörder“; es folgt eine Groteske über seine Frau, deren Mordattacke aus Neid um seine historischen Nike-Socken er im freien Flug nur unter eigenwilligem Einsatz seines Genitals überlebt. Kopfschütteln. Zehnen.
Vergleichsweise harmlos dagegen die weiteren persönlich anwesenden Poeten – aber nicht weniger vielfältig als ihre Ahnen. Julian Heun aus Berlin gibt nachdenkliche Variationen zu einem Eichendorff-Zitat: „Es schläft kein Lied in allen Dingen / Doch was bleibt, ist die Stille, um es selber zu…“; nicht ohne als Aufhänger aber eine skurrile Edelproleten-Szene zu wählen. Anke Fuchs trägt gewohnt reduziert, aber abgründig Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme vor: „Ich kann ja schlecht sagen: Darf ich mal deinen Pulli benutzen? Dich vielleicht gleich mit, wenn’s dir nichts ausmacht“ und mischt mit ihrer tiefen Stimme klangstarke Sprachspiele hinein („ich schlage Breschen in gedämpfte Gesprächsfetzen“). Am meisten „Performance“ bietet Moritz Kienemann, der dafür auch bekannt ist: Seine Aussage, ungefähr „Jeder will Liebe, aber möglichst bequem“, spricht der hübsche Bursche so nicht aus, sondern führt sie vor, dreht sich um, brüllt adolf-mäßig.
 
Am Ende Gleichstand – 102:102. Entscheidend pro „Alive“ dann die Bonusrunde, wo das Gesamtpublikum per Applaus votiert: Strauß besiegt Schiller. Letzterer war mit Schauspieler Roland Riebeling der Erfolgreichste unter den der Gruft Entstiegenen gewesen: mit seiner Ballade „Der Taucher“. Als Einziger des Abends erzählt er eine Geschichte, in strenger Form und tatsächlich mit Pathos, das packt. Fazit also: Ja, auch tote Dichter können slam-geeignet sein und Slams toten-tauglich; aber innerhalb der Kategorie „Dead“ urteilt man offenbar doch konservativ: Wenn schon
klassisch, dann richtig.

Informationen auch unter:  www.schauspielhausbochum.de/