Energie

von Hanns Dieter Hüsch

© André Poloczek - Archiv Musenblätter
Energie

In letzter Zeit wird ja furchtbar viel von Energie gesprochen. Hier muß ich gleich sagen, von der Energie habe ich immer die Finger gelassen. Ich kann zum Beispiel kein Auto fahren. Nicht daß ich zur Zeit keinen Führerschein hätte wegen der permanenten Trunkenheit, nein, ich kann nicht fahren, ich habe damals verpaßt es zu lernen, und bin schon deshalb kein Umweltverschmutzer. Ich weiß auch nicht genau, warum ich damals keine Lust hatte, ich habe ja auch kein Segelboot, fahre nie Ski, und war noch nie ein Energiebündel. Die Menschheit meint immer, das müßte jetzt alles unbedingt sein. Noö. Als alle anfingen, Auto zu fahren, da war ich wahrscheinlich am Träumen, erstens kostet das nix, und zweitens spart man Nerven und damit Energie. Ich bewege mich auch ungern, höchstens, daß ich mich bewegen lasse, so wie man manchmal sagt: »Das hat mich sehr bewegt.« Gut, dann gehe ich auch schon mal hin und her, aber sonst nix. Wofür denn? Kann mir mal einer sagen, wofür ich mich bewegen soll? Gut, ich fahre selbst kein Auto, aber ich lasse mich fahren. Andere lassen sich gehen, ich lasse mich fahren. Beim Auto bin ich nur Beifahrer, aber als Beifahrer schlafe ich meist sofort ein, also wenn ich gefahren werde, kann ich dabei schlafen, spare ich Kraft. Natürlich habe ich manchmal auch die Augen auf, sonst könnte ich gar nicht sehen, wie viele Autos auf der Autobahn sind. Das wird immer schlimmer,  und es werden immer mehr, das kann man von Tag zu Tag genau sehen, jeden Tag kommen zig Autos dazu, und die Lücken werden immer kleiner, und die Autobahnen werden ja nicht größer. Das sehe ich ganz genau, da brauche ich gar kein Auto fahren zu können, da brauche ich wirklich nur die Augen aufzumachen. Alles wird jetzt immer enger, immer enger, und auf einmal fahren sie alle nur noch 60, weil sie nicht mehr schneller können, aber es fällt fast keinem auf. Und dann ein paar Monate später können alle nur noch 40 fahren. Naja, sagt jeder, das ist das Verkehrsaufkommen, und dann kommen schon wieder zigtausend Autos dazu, und dann können alle nur noch 30 fahren, und jeder weiß, was auf ihn zukommt. Aber keiner glaubt es, alle fühlen es, aber keiner spürt es, jeder ahnt es, jeder sagt es, aber keiner meint es, jeder befürchtet es, aber keiner ängstigt sich und so weiter, und dann fahren alle nur noch 20, dann nur noch 10 und dann auf einmal, ganz plötzlich, stehen alle. Überall stehen alle, nichts geht mehr, nichts fährt mehr, alles steht, keiner lacht, alles steht still. Und dann geht noch mal ein kurzer Ruck durch die bundesdeutsche Autoschlange, wie bei einem Todeskampf, und das passiert nicht nur hier, sondern überall, und es sieht aus wie ein Kunstwerk und wird von Christo im Auftrag des Verkehrsministers verpackt als Jahrhundertwerk. Und die Menschen steigen dann aus ihren Autos, zerren ihr Gepäck heraus, stellen sich gegenseitig vor: »Schmitz.« »Sehr angenehm.« »Huber.« »Sehr erfreut.« Der eine muß nach Köln, der andere nach München, und dann nehmen sie ihre Habe auf die Schulter, fast so als wenn nichts gewesen wäre und gehen über Berge und durch Täler zu Fuß nach Hause. Und alle sagen plötzlich, daß sie immer schon dagegen waren. Ach, bin ich froh, dass ich keinen Führerschein habe.




© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Es kommt immer was dazwischen" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung