Abisag Tüllmann
Sie zählt neben Barbara Klemm zu den bedeutendsten Photographinnen der alten Bundesrepublik,
Abisag Tüllmann. Vor allem in den 60er und 70er Jahren hat sie der Gesellschaft mit ihren Photos einen Spiegel vorgehalten, in dem nicht die Glamourseite des Landes zu sehen war. Sie ist noch mehr als Barbara Klemm eine Chronistin der dunklen Seiten der Zeit. Geboren ist sie als Ursula Eva Tüllmann 1935 in Hagen. Kurz nach dem Krieg kam sie mit der Familie nach Wuppertal, besuchte das Lyzeum Sternstraße in Barmen, sodann die Werkkunstschule und lernte Paul Pörtner kennen, der nicht nur ihr Mentor wurde, sondern zeitweise auch ihr Lebensgefährte. Pörtner hatte schon in der HJ fotografieren gelernt, dann eine Art Lehre bei einem Elberfelder Fotografen absolviert. Nun zeigte er seiner jungen Freundin, wie sie mit dem Photoapparat umgehen konnte, und für die Werbeagentur „It Copyright“, die er gegründet hatte, machte sie erste Arbeiten. Eine außergewöhnliche Schönheit sei sie gewesen hat Pörtner noch viel später gemeint. Er hat sie auf den biblischen Namen der Abisag getauft, den sie für immer behalten hat. Gegenseitig haben sie sich abgelichtet. Die Erzählung „Abisag“, die er über sie geschrieben hat, ist bis heute unveröffentlicht. 1957 verläßt sie die Wuppertaler Enge, geht nach Frankfurt, schlägt sich als Photographin durch und nun entstehen ihre besten Bilder, die die Ränder der Wirtschaftswundergesellschaft zeigen. Vor allem Gestrandete finden in ihre Bilder, vor allem in der Umgebung des Frankfurter Hauptbahnhofs: Obdachlose, Heimatlose, die ersten Gastarbeiter in ihren Containerbehausungen oder in den winzigen Zimmern, die kaum ein würdiges Leben ermöglichen. Beklemmende Armut findet sie in der Großstadt und immer wieder Einsamkeit, Ausgegrenztheit.
Aber auch Bilder tiefen Humors gelingen ihr, wie das eines Fronleichnamzugs über eine Brücke, auf der eine Armada von schwarzen Nonnenköpfen den Main überquert.
Die Ausstellung in Berlin, die zuvor schon in ihrer zweiten Heimat Frankfurt zu sehen war, zeigt 340 Bilder, ausgewählt unter 500 000 Negativen, ein immenses Lebenswerk von außergewöhnlicher Qualität.
1967/68 ist sie Beobachterin, wenn auch aus objektivierender Distanz, der Studentenbewegung und später dann des Frankfurter Häuserkampfs. Theodor W. Adorno vor den ihm lauschenden aber auch aufgebrachten Studenten. Bilder von Hans Joachim Kahl, einem der hellsten Köpfe der Zeit, der indes früh verstirbt. Dann ein Schnappschuß, der die Zeit einfängt wie kaum ein anderer. „Terrassenkaffee“ zeigt eine saturierte Reihe mehr oder weniger dicker Männer hinter den Kaffeetassen verschanzt, einer liest eine Zeitung mit der Schlagzeile: „Attentat auf Rudi Dutschke.“
Die Einsamkeit eines Straßenkämpfers: Joschka Fischer im Häuserkampf des Frankfurter
Abisag Tüllmann hat für alle große Zeitungen der Republik fotografiert, und viele Buchtitel tragen ein Photo von ihr, in den 80er Jahren dokumentiert sie die Theaterarbeit von Claus Peymann erst in Stuttgart, dann in Bochum. Viel reist sie in den 80 und 90ern, in die Länder der „Dritten Welt“, die sie in ihren Reportagen bekannt macht.
Portraits der Größen der Jahre, Politiker, Künstler, Gelehrte, Musiker ergänzen die Schau. Auch Paul Pörtner, inzwischen ein bekannter Roman-,Theater- und Hörspielautor, hat sie 1964 abgebildet. Wie stets schmunzelt er in sich hinein, treffender hätte man ihn nicht zeigen können.
1996 ist Abisag Tüllmann in Frankfurt verstorben und dort auch begraben. Museum für Fotografie Berlin Jebenstrasse
Bis 18. September
Weitere Informationen unter: www.smb.museum/smb/kalender/ und unter: www.hatjecantz.de
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