100 Jahre Wagner-Festspiele in Bayreuth

Katharina Wagner im Interview

von Ludwig Steinbach
In Bayreuth wird die Erinnerung geweckt
 
"Opernfreund"-Kritiker Ludwig Steinbach
im Gespräch mit Katharina Wagner
 
 

Katharina Wagner - Foto: Pressebüro Bayreuth - Enrico Nawrath
OF: Liebe Frau Wagner, Sie sind die Urenkelin des berühmtesten deutschen Komponisten, nämlich Richard Wagner, dessen künstlerisches Erbe Sie hier in Bayreuth als Festspielleiterin verwalten. Wie ist es, in die Familie Wagner hineingeboren zu werden? Bringt das schon in der Kinderzeit eine gewisse Verantwortung mit sich?
 
KW: Eine Verantwortung den Bayreuther Festspielen gegenüber hatte ich als Kind natürlich nicht - und eigentlich auch bis zu meinem dortigen Regiedebüt mit den „Meistersingern“ nicht. Meine Eltern haben sich stets darum bemüht, mich wie ein normales Kind zu behandeln. Da spielten unsere Vorfahren genauso wenig eine Rolle wie in anderen Familien. Natürlich waren die Festspiele durch den Beruf meines Vaters als Festspielleiter in gewisser Weise immer präsent. Aber ebensowenig, wie Apotheker beispielsweise beim Abendbrot mit ihren Kindern über die Apotheke reden, wurde bei uns pausenlos über den Festspielbetrieb gesprochen.
 
OF: Wie geht man mit dieser ehrenvollen Tradition um? Ist es für Sie nicht anstrengend, dauernd in der Öffentlichkeit zu stehen? Hat man als eine Wagner überhaupt noch ein Privatleben?
 
KW: Man kann sich dem ja auch in einem gewissen, für einen selber gesunden Maß entziehen. Und diese Balance gelingt mir doch bisher so gut, daß ich auch noch einige Momente habe, in denen ich mich voll und ganz meinem Privatleben widmen kann. Ich werde auch alles dafür tun, daß das so bleibt.
 
OF: Sie haben sich in den letzten Jahren zu einer der bedeutendsten Opernregisseurinnen entwickelt. Sie haben Ihr Metier u. a. bei Ihrem Vater gelernt, dem Sie hier in Bayreuth auch assistiert haben. Nun hat Wolfgang Wagner aber immer sehr konventionell inszeniert. Sie dagegen bevorzugen moderne Deutungen und präsentieren durchweg gut durchdachtes und spannendes Musiktheater. Wie kommt es, daß sich Ihr Selbstverständnis als Regisseurin so grundsätzlich von der Regieführungsart Ihres Vaters unterscheidet? Hat seine Arbeitsweise Sie nicht in irgendeiner Weise geprägt?
 
KW: Man muß da ganz konsequent differenzieren zwischen der Sichtweise und dem Handwerk. Erstere kann man nicht lernen, weil es auf den eigenen Erfahrungen, der eigenen stilistischen Prägung und dem grundsätzlichen Horizont basiert. Das Handwerk wiederum muß man erlernen und durch intensive Beobachtung eines in dem Metier ausgereiften Regisseurs für sich und seine spezielle Arbeitsweise adaptieren. Das Handwerk habe ich so gezielt gelernt, meine eigene Bildersprache und Sichtweisen sind dagegen in mir gewachsen - bei weitem aber nicht nur durch den Einfluß meines Vaters, sondern auch durch Kollegen wie beispielsweise Harry Kupfer.
 
OF: Sie scheinen Ihrem genialen Onkel Wieland Wagner nachzuschlagen, dessen hervorragende Inszenierungen ich teilweise Anfang der 1980er Jahre in Stuttgart noch erleben durfte und die einen schweren Eindruck bei mir hinterlassen haben. Sie sind keine Regisseurin, die sich darauf beschränkt, eine Oper einfach nur mit dem Reclam-Heft in der Hand in gefälligen Bildern nachzuerzählen. Vielmehr kommt es Ihnen immer darauf an, die Inhalte der von Ihnen inszenierten Werke zu hinterfragen und deren innersten Kern freizulegen. Und genau das hat Wieland Wagner ebenfalls vortrefflich beherrscht. Insoweit ist Ihre Herangehensweise an die Stücke der seinen sehr ähnlich. Ist Ihr Onkel Ihnen ein Vorbild? Worin liegen die Gemeinsamkeiten, worin die Unterschiede bei Ihnen beiden hinsichtlich des Erfassens und Ausdeutens des geistigen Gehalts der auf die Bühne zu bringenden Werke?
 
KW: Im Grunde kann es gar nicht darum gehen, einem anderen Kollegen nachzueifern - auch oder vor allem, wenn es der eigene Onkel ist. Wenn mich der Beruf der Regisseurin interessiert und ich ihn ausüben möchte, muß ich mich grundsätzlich entscheiden, was ich mit einer Produktion sagen möchte. Daher brauche ich auch immer eine ordentliche Bedenkzeit, wenn mir ein Stück angeboten wird. Ich beschäftige mich mit der Oper intensiv und frage mich dann: „Was kann ich über den eigentlichen Stoff hinaus dem Zuschauer noch an die Hand geben und in meiner Inszenierung als Aussage rüberbringen?“ Und erst wenn ich das ausführlich genug getan habe, nehme ich eine Regiearbeit an. Ich glaube aber, daß ich mich da von den Kollegen wenig unterscheide. Möglicherweise gibt es Unterschiede in der Stringenz der Umsetzung oder auch in der Radikalität einer das Heute betreffenden Aussage, aber grundsätzlich nehmen wir den Zuschauer ernst und wollen in ihm etwas bewegen. Und das ist letztendlich unser Hauptanliegen.
 
OF: Wie Wieland Wagner im Jahre 1956 haben Sie bei Ihrer ersten Bayreuther Regiearbeit im Jahre 2007 die „Meistersinger“ ebenfalls gründlich entschlackt. Der frische Wind, den Sie durch diese heitere Oper wehen ließen, hat gut getan. Dabei huldigten Sie stark dem Epischen Theater Bertolt Brechts. Gleich ihm verfremdeten Sie das Altvertraute und forderten das Publikum dazu auf, mitzudenken, das Gesehene kritisch zu reflektieren und einen eigenen Standpunkt einzunehmen. Haben Sie eine besondere Affinität zu Brecht? In welchem Ausmaß beeinflußt sein Stil Ihre Arbeiten?
 
KW: Da muß ich Sie leider enttäuschen. Ich habe gar keine besondere Affinität zu Brecht und glaube nicht, daß er selbst mit der von Ihnen hergestellten Verbindung meiner „Meistersinger“-Inszenierung zu seiner Form des Epischen Theaters einverstanden wäre. Eine unkonventionelle Bildersprache mit etwas - sagen wir - leicht überspitzten Regieeinfällen macht ja noch keinen V-Effekt. Bei weitem nicht. Von daher kann man vielleicht sagen, daß ich selbstverständlich Brecht in seiner Theorie vom Theater allein schon studienbedingt durchdrungen habe, aber gerade auf dieser Basis meine Produktion keinesfalls einer Form des Epischen Theaters zurechnen würde. Dafür wird beispielsweise die Handlung dann doch zu stringent erzählt. Die Figuren entwickeln sich für mich logisch von Anfang bis zum Ende aus dem Stück heraus. Es fehlt in meiner Sicht auf die „Meistersinger“ jegliches Episodenhafte. Aber das alles jetzt genau zu analysieren, ginge doch sicher zu weit.
 
OF: Allgemein gefragt: Ist Brecht im modernen Opern- und Theaterbetrieb überhaupt noch wegzudenken?
 
KW: Brecht hat natürlich viel zur (Weiter-) Entwicklung des Theaters und gemeinsam mit Kurt Weill vor allem auch zur Fortführung und selbstreflektierenden Beleuchtung der Gattung Oper beigetragen. Ich bin mir sicher, daß wir ohne diese beiden nicht da wären, wo wir uns glücklicherweise zumindest hier in Deutschland heute rezeptionsgeschichtlich befinden.
 
OF: Ein absolutes Novum war Ihre Sicht des Beckmesser, den Sie zum Hoffnungsträger, zum Wegbereiter einer neuen, zeitgenössischen Kunst und damit zum eigentlichen Helden der „Meistersinger“ machten. Bereits Ihr Onkel und ihr Vater haben in ihren Inszenierungen den Stadtschreiber stark aufgewertet und deutlich gemacht, daß er durchaus keine lächerliche Karikatur ist, sondern ein ernstzunehmender Charakter. Glauben Sie, daß Ihre Interpretation Beckmessers als Held die Spitze der Deutungsmöglichkeiten dieses Menschen - ich sage bewußt MENSCH - darstellt? Ist eine noch positivere Sicht des Stadtschreibers überhaupt noch möglich?
 
KW: Ich kann Ihnen natürlich nicht sagen, wie andere Kollegen nach mir in ihren Produktionen den Beckmesser deuten werden. Womöglich ist da noch mehr drin. Aber Sie haben das schon richtig beobachtet. Beckmesser ist für mich eine der spannendsten Figuren des Stücks, die in dauerhaftem Konträr zu Stolzing steht. Beide entwickeln sich gegensätzlich und treffen sich ungefähr in der Mitte. Letztendlich ist Beckmesser der befreite Künstler, der die Kunst den Regeln voranstellt, während Stolzing sich ganz dem Allgemeingeschmack unterworfen und die Kunst damit in gewisser Weise sogar verraten hat.
 
OF: Früher wurde der Beckmesser immer von Bass-Buffos verkörpert. Wieland Wagner eröffnete ihn den lyrischen Baritonen, die sich inzwischen in der Partie fest etabliert haben. In Bayreuth sang in den letzten Jahren der junge Adrian Eröd, der in Wien auch ein trefflicher Loge war, diese Rolle sehr erfolgreich. Nicht nur darstellerisch, auch stimmlich hat er mit seinem tenoral anmutenden Bariton Ihr Konzept glänzend erfüllt. Sein heller Stimmtyp hat hervorragend mit Ihrer Interpretation der Figur harmoniert. Könnten Sie sich vorstellen, die Linie, die Ihr Onkel im Jahre 1956 begonnen hat, fortzuführen und den Beckmesser mit einem echten Tenor zu besetzen? Halten Sie es für möglich, daß sich auch Tenöre in dieser Partie auf Dauer etablieren können?
 
KW: Sehen Sie, mir ist wichtig, daß ein Sänger die Rolle ausfüllt, sowohl stimmlich als auch szenisch. Wenn das dann auch noch vom Publikum goutiert wird, bestens! Da ist es für mich eher von geringerer Bedeutung, ob er ein Bass-Buffo oder ein Tenor ist. Das Ergebnis zählt - wie immer in der Kunst.
 
OF: Noch in anderer Hinsicht kommt Ihrer Bayreuther „Meistersinger“-Inszenierung essentielle Bedeutung zu, nämlich als Brücke der Jetztzeit zur jüngeren Vergangenheit. Wenn sich Sachs im Festwiesenbild an der Verbrennung eines modernen Regieteams beteiligt, beschwören Sie damit nachhaltig die Erinnerung an das schwärzeste Kapitel in der Geschichte der Bayreuther Festspiele herauf, nämlich ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus. Das ist der springende Punkt: Erinnerung. Lange Zeit war man in Bayreuth nachhaltig darauf bedacht, die Erinnerung an die NS-Zeit zu verdängen. Sie aber haben mit dieser Szene bewußt den diametralen Weg eingeschlagen, was ich persönlich sehr mutig und lobenswert fand. Sind Sie der Ansicht, daß sich Bayreuth der Verantwortung vor seiner eigenen Geschichte stellen muß, auch wenn diese, wie im konkreten Fall, fragwürdiger Natur ist?
 
KW: Natürlich spielt gerade bei der Interpretation der „Meistersinger“ die Rezeptionsgeschichte eine wesentliche Rolle - vor allem in Bayreuth. Sicherlich wäre meine Interpretation dieser Oper an einem anderen Ort anders ausgefallen - schon allein auf der Tatsache beruhend, daß ich in Bayreuth beim Publikum eine stärkere Kenntnis des Werks voraussetzen kann als bei vielen anderen Opernhäusern der Welt. In Bayreuth war es für mich wichtig, die „Meistersinger“ genau so zu präsentieren, wie ich es getan habe. Und so stehe ich auch heute, im fünften Jahr der Inszenierung, voll und ganz hinter dem, was wir uns damals im Team dazu haben einfallen lassen. Daß dazu auch gehört, daß wir uns auf verantwortungsvolle Weise der Vergangenheit des Stücks und somit auch zwangsläufig derjenigen der Bayreuther Festspiele stellen müssen, versteht sich für mich von selbst.
 
OF: Es war insbesondere das oben erwähnte Bild, das im Premierenjahr 2007 die Gemüter stark erhitzte und sehr kontrovers diskutiert wurde. Haben Sie damals mit solchen Reaktionen gerechnet? Wollten Sie mit dieser Szene bewußt die Diskussion um die Rolle Bayreuths im Dritten Reich wieder ankurbeln?
 
KW: Dazu ist zunächst einmal eines festzuhalten: Ich inszeniere nicht, um zu provozieren oder Gemüter zu erhitzen. Ich inszeniere aus dem Stück heraus, was ich darin sehe und wie es in der Veränderung auch aus Sicht der eigenen Rezeptionsgeschichte für das Hier und Jetzt noch etwas zu sagen hat. Welchen besonderen Aspekt sich jeder einzelne dabei aussucht, um in eine auf den Besuch der Aufführung folgende Diskussion einzusteigen, ist jedem selbst überlassen. Es gibt da ja auch noch genug andere Anknüpfungspunkte in meiner Inszenierung - das kann man für mich nicht nur auf den Aspekt der Rolle des Werkes im Dritten Reich beschränken. Das wäre auch viel zu wenig. Da gibt es den Gedanken des allgemeinen Kunstdiskurses, der in der Oper viel essentieller ist. Was ist Kunst überhaupt? Wer definiert, was Kunst ist? Und was kann Kunst im Betrachter bewirken? Aber ich gebe Ihnen natürlich Recht darin, daß auch der Umgang mit der eigenen Geschichte ein Gedanke ist, der von nicht geringer Bedeutung für unsere Interpretation war und ist. Aber grundsätzlich zählt für mich die Idee, daß man über meine Produktion nachdenken und diskutieren kann, viel mehr als der eigentlich gewählte Aspekt der Interpretation, den man bei einer anschließenden fortführenden inhaltlichen Auseinandersetzung für sich gewählt hat.
 
OF: Schon Richard Wagner war sich der Existenz von Berührungspunkten zwischen Kunst und Politik voll bewußt. Sein Gesamtkunstwerk enthält zahlreiche politische Anspielungen. Das trifft insbesondere auf den „Ring“ zu, mit dem er 1876 die Bayreuther Festspiele eröffnete. Kann es sein, daß Wagner seine Festspiele auch als Forum für die Verbreitung seiner politischen Überzeugungen nutzen wollte?
 
KW: Fakt ist, daß in den Schriften meines Urgroßvaters unzählige unterschiedliche, auch konträre Aussagen zu politischen Gedanken und Überzeugungen zu finden sind. Inwieweit er eine davon bei seinen Festspielen in den Vordergrund rücken wollte, liegt aber außerhalb meines Bewertungshorizontes.
 
OF: Das Motto von Neu-Bayreuth war seit 1951 immer „Hier gilt’s der Kunst“. Damals baten Ihr Vater und Ihr Onkel „im Interesse einer reibungslosen Durchführung der Festspiele von Diskussionen politischer Art auf dem Hügel abzusehen“. Haben Sie die Absicht, dieses Prinzip fortzusetzen oder ist Ihnen daran gelegen, wieder eine politische Komponente in die Diskussion um Bayreuth einzubringen?
 
KW: Eines ist sicher: Hier gilt es immer noch vornehmlich der Kunst. Wenn aus diesem Gedanken auch eine politische Diskussionskomponente entsteht, werden wir natürlich nichts unternehmen, um diese zu unterbinden. Es zählt, was ein Regisseur zu der von ihm in Szene gesetzten Oper zu sagen hat. Das muß in sich schlüssig, glaubwürdig und gut sein. Der Rest ergibt sich dann ganz von selbst und wird weder forciert noch unterbunden.
 
OF: Der Kritiker Claus-Henning Bachmann, der die Festspiele seit 1951 regelmäßig besuchte, hat das Wesen von Neu-Bayreuth einmal als „Versuch einer Avantgarde-Utopie, praktiziert als Verdrängung von Erinnerung“ beschrieben. Jetzt hat sich die Situation geändert: Mit Ihrer Produktion der „Meistersinger“ haben Sie die Erinnerung wieder geweckt und, dem Trend unserer Zeit folgend, damit zum Ausdruck gebracht, daß auch die Bayreuther Festspiele jeglichem Vergessen einen Riegel vorschieben wollen. Was denken Sie: Muß man den Begriff „Bayreuth“ jetzt neu definieren? Ist es unter diesen Voraussetzungen vielleicht gerechtfertigt, von einem „Neuen Neu-Bayreuth“ zu sprechen?
 
KW: Ich glaube nicht, daß man jetzt zwanghaft eine neue Begrifflichkeit bemühen muß, um das zu charakterisieren, wohin sich Bayreuth in den vergangenen Jahren entwickelt hat: Zu einem Opernzentrum mit spannenden, mitunter auch kontroversen, aber stets in allen Bereichen der höchsten Qualität verschriebenen Inszenierungen. Die Bayreuther Festspiele waren immer die Bayreuther Festspiele und werden es immer bleiben.
 
OF: Ist eine Neudefinition des Begriffs „Bayreuth“ nicht schon deshalb angebracht, weil die Festspiele im Jubiläumsjahr 2013 in einer Kooperation mit der Oper Leipzig auch die drei „Jugendsünden“ Wagners „Die Feen“, „Das Liebesverbot“ und „Rienzi“ aufführen werden, was eine ganz wesentliche Abweichung von Wagners Konzeption der Festspiele bedeutet? Erweiterung des Bayreuther Werke-Kanons um die von Wagner für Bayreuth verworfenen frühen Opern und Zusammenarbeit mit einem normalen Opernhaus: Wie verträgt sich das mit der ursprünglichen Festspielidee Ihres Urgroßvaters?
 
KW: Es handelt sich bei den Frühwerken um eine einmalige Ergänzung der Festspiele zum Wagner-Jahr als Geschenk an die Bayreuther und die Wagnerfans in aller Welt. Sie werden nicht im Festspielhaus und auch zeitlich nicht während der eigentlichen Festspiele in Bayreuth gezeigt. Die ursprüngliche Festspielkonzeption meines Urgroßvaters wird also im Grunde gar nicht tangiert. Und das haben wir auch in Zukunft nicht vor.
 
OF: Vom äußeren Erscheinungsbild her haben Sie und Ihre Schwester Eva Wagner-Pasquier die Festspiele einer leichten Modifikation unterzogen, indem Sie z. B. das Public Viewing mit Live-Übertragungen von Festspielaufführungen auf einen Bayreuther Platz einführten sowie das Projekt „Richard Wagner für Kinder“ starteten. Wäre das im Sinne Richard Wagners gewesen?
 
KW: Ich bin der festen Überzeugung, daß alles, was seine Musikdramen einer breiteren Masse zugänglich macht und auch in jungen Jahren ein Verständnis für die eigenen Werke weckt, für Richard Wagner eine große Genugtuung gewesen wäre. Es ist vielleicht anmaßend, das zu behaupten, aber er hätte es vermutlich nicht anders gemacht.
 
OF: Wobei es sicherlich kein Fehler ist, Kinder auf solche Weise an das Werk Wagners heranzuführen. Ich habe den Eindruck, daß Ihnen der Publikumsnachwuchs sehr am Herzen liegt. Das belegt nicht zuletzt die „Hänsel und Gretel“-CD in der von dem Label DECCA ins Leben gerufenen Hörspielreihe „Der kleine Hörsaal“, auf der Sie die mitwirkenden Kinder mit großem Einfühlungsvermögen in die Inszenierungspraxis einführen, ihnen moderne Sichtweisen nahe bringen und auch einen kleinen Ausflug zu Wagner mit ihnen unternehmen. Hat Ihnen das Spaß gemacht? Wären Sie auch für weitere derartige Projekte zu haben? Wollen Sie so ein zeitgenössischen Sichtweisen aufgeschlossenes Publikum heranziehen?
 
KW: Es war nicht nur eine große Freude, sondern vor allem eine große Herausforderung, mit Kindern über den Beruf des Regisseurs zu sprechen. Von daher bin ich solchen Projekten gegenüber immer aufgeschlossen. Das erstaunlichste für mich war, daß die Kinder beim „Kleinen Hörsaal“ eine viel abgeklärtere und in diesem Sinne auch unverdorben zeitgemäße Sicht auf Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel“ hatten. Ich glaube, wenn wir es schaffen, diese freie Sichtweise auch auf eine Interpretation zu fördern und zu bewahren, dann brauchen wir uns um das Publikum von morgen keine Sorgen zu machen. Und um nichts anderes kann es bei dieser Form der Nachwuchsförderung gehen.
 
OF: Sind Sie der Ansicht, daß das heutige Publikum zu konventionell eingestellt ist und zum Fortschritt erzogen werden muß?
 
KW: Es gibt ja im Grunde nicht das eine Publikum. Jeder einzelne hat seine eigene Sichtweise auf eine Inszenierung. Der eine kann mal mehr und mal weniger mit der Interpretation des Regisseurs anfangen. Zu viele Faktoren tragen einfach zum Verständnis und zur Durchdringung eines Werkes in einer bestimmten Interpretation bei. Da wird man nie auf einen Nenner mit jedem einzelnen im Auditorium kommen. Von Erziehung kann hier also gar keine Rede sein. Vielmehr von der Weckung der Neugier eines jeden einzelnen in der Hoffnung, in immer mehr Zuschauern eine gewisse Offenheit auch einer neuartigen Interpretation eines jahrhundertealten Werkes gegenüber hervorzurufen. Denn nur dann kann ein Opernbesuch auch die Basis einer fundierten Debatte sein.
 
OF: Frau Wagner - wir danken Ihnen herzlich für das Interview.
 
 
Dieses Interview übernehmen die Musenblätter mit freundlicher Erlaubnis
von "Der Opernfreund", Deutschlands ältester privater Opernzeitung