Archäologie als geistige Lebensform

Ulrike Kienzle - "Giuseppe Sinipoli. Komponist - Dirigent - Archäologe"

von Peter Bilsing
Archäologie
als geistige Lebensform
 
840 Seiten, die niemals langweilig werden,
auch wenn der Leser kein Opernfan ist.

"Selbstverständlich sind unsere Gagen viel zu hoch. Wenn ich allerdings weniger verlangen würde, verdürbe ich den Markt oder man hielt mich für einen Idioten." (G. Sinopoli)

Mit gerade einmal 54 Jahren verstarb am 20.April 2001, völlig überraschend, einer der vielleicht größten Dirigenten des 20. Jahrhunderts während der Vorstellung einer Verdi-Oper in Berlin - "Aida" wurde Giuseppe Sinopolis Schicksalsoper. Der Maestro leitete nicht nur eine neue Epoche der Verdi-Interpretation ein; auch seine Mahler-Aufführungen setzten Maßstäbe, Wagner hören wir mit anderen Ohren und Schönberg wurde von ihm quasi neu entdeckt. Doch da gab es vieles mehr... Was hätte dieser große Mann, dieses Künstler-Genie, in seiner zweiten Lebensphase noch für Phantastisches hervorbringen können. Was er alles bereits in seiner ersten, in diesen kurzen 54 Jahren vollbracht hat, beschreibt nun endlich (nach langen zehn Jahren) eine Maßstäbe setzende Biografie von Ulrike Kienzle. Selten habe ich ein Buch so verschlungen. Selten war eine Biografie so spannend zu lesen und so interessant.
 
Viele Biographien sind oft nichts anderes als die stoische wortreiche Darstellung eines Lebenslaufes. Das wirkt schnell langweilig. Ulrike Kienzles Buch ist anders. Es geht ihr nicht nur um die Vita; es ist keine rein chronologische Aneinanderreihung von Lebensstationen. Das Buch ist eine "Geistige Biographie", wie es die Autorin selbst formuliert, d. h. sie versucht die gesamte Persönlichkeit von Sinopoli in ihrer ganzen Breite und Tiefe zu eruieren. Ulrike Kienzle hat so ziemlich alles zusammengetragen, was sich über diesen außergewöhnlichen Menschen in Erfahrung bringen ließ, so scheint es. Es ist nicht nur eine akribische Fleißarbeit; es ist ihr eine erkennbare Herzensangelegenheit. Vielleicht kann man nur so diesem wirklich außergewöhnlichen Künstler gerecht werden, den viele zu Lebzeiten doch oft allzu sehr unterschätzt haben. Unter den Giganten wie Solti, Karajan oder Celibidache z.B. war er ein Mann, der den oberflächlichen Glamour und Show-Business scheute, ein Mensch der Tiefe, eher Carlos Kleiber verwandt. Seine Familie und sein Hund Dodo waren ihm wichtiger als ein Super-Porsche oder ein Privat-Jet. Gerade der Bildband zeigt uns einen Menschen von besonderem Karma. Wunderbare Bilder!
 
"Rettung durch Erinnerung" nennt Kienzle ihre Methode. Wenn man die 840 Seiten gelesen hat, bekommt der Leser wirklich den Eindruck, daß die Biographin nicht nur alles reflektiert und verarbeitet hat, was je über den großen Sinopoli geschrieben wurde, sondern auch so gut wie jeden interviewte, der jemals enger mit ihm zusammen kam. Leben als Mysterium - ein Begriff, der sich in diesem Buch klärt. Sehr gut: Viele Aussagen sind im fremdsprachigen Originaltext plus Übersetzung dokumentiert. Dabei zeigten sich die noch lebenden Zeitzeugen - Ehefrau, Freunde, Kollegen, Kritiker, Mitarbeiter und Fachleute - ausgesprochen kooperativ. Zusätzlich, und das ist das Schöne an dem Buch, läßt sie Sinopoli persönlich, möglichst oft zu Wort kommen. Sie zitiert nicht nur aus Schriften, Statement und Interviews, sondern auch aus Rundfunksendungen und Filmen.
 
Schade, daß man nicht auch noch eine TV-Dokumentation aus all diesen Recherchen gemacht hat - es würde für einen intelligenten Mehrteiler reichen mit 90-Minuten-Folgen. Wo ist das öffentliche Fernsehen? Allein der Bereich: "Sinopoli als Archäologe" wäre einen ersten Teil wert gewesen, zweiter Teil: "Sinopoli als Koch", dritter Teil: "Der Komponist", vierter Teil: "Der Naturwissenschaftler und Forscher", fünfter Teil: "Der Dirigent" und als sechster Teil könnte man 90 Minuten unter dem Thema "Sinopoli der außergewöhnliche Mensch" füllen. Alles Material ist in diesem prächtigen Buch vorhanden. Vielleicht kommt ja ARTE noch auf den Trichter; zumindest ein Themenabend müsste realisierbar sein...
Manche Fakten, wie seine posthume Promovierung zum Doktor der Archäologie, wirken schon sehr makaber, aber es gibt auch die witzigen Details, z. B. wie er in seiner Jugend auf dem Rialtomarkt einkaufen ging, oder seine dauernde Suche nach immer neuen Kochrezepten. Interessant auch der Rückblick auf seine Lehrer, wobei Friedrich Cerha im gleichen Atemzug mit dem großen Hans Swarowski genannt wird. Kaum bekannt ist auch, daß sich Sinopoli sehr intensiv mit zeitgenössischer Komposition beschäftigt hat. Später als Professor und Dozent war eine seiner Kernaussagen:
 
"Ein Lehrer kann nur das Handwerk vermitteln und alles daran setzen, dem Studenten Stimulation zum Klangobjekt, die er im Keim in sich trägt, zu verstärken."
Immer wieder wird betont, daß die Archäologie ihm genauso wichtig war wie die Musik, wie Psychologie und Medizin. (Anmerkung: Interessante Bilder seiner recht hochwertigen Sammlung antiker Vasen und Gegenstände finden sich auch im zweiten Bildband.)
Da er alle diese Fächer auch tatsächlich intensiv studiert hat, hätte er wohl in jedem Bereich seinen Meister gestanden. Oper als archäologisches Grabungsfeld - was für ein wissenschafts-übergreifender Gedanke! Sinopoli fühlte sich mehr als Kosmopolit, denn als heißblütiger Italiener. Wien galt seine besondere Liebe. Weitere große Stationen seines Erfolgs waren London, Hamburg und Berlin, wo er besonders mit Verdi Furore machte und sich zum Welt-Star entwickelte. Bayreuth nicht zu vergessen! Dann kam Dresden und die Semperoper; Sinopolis Wunschtraum gemeinsam mit der Sächsischen Staatskapelle, deren Chefdirigent er neun Jahre lang war, seine Karriere zu beenden hat sich leider nicht mehr erfüllt. Hochinteressant auch die Dinge, die sich hinter den Vorhängen abspielten u.a. gab es eine Berliner Buh-Mafia in Bayreuth, oder die Querelen bzw. Skandale in und um Berlin. Es ist unglaublich, was sich so alles hinter dem Vorhang des nach außen so scheinbar braven Opern- und Konzertleben abspielt.
Nicht hinter dem Berg hielt er mit seiner Kritik an Italien und den bestehenden Verhältnissen im Kulturbetrieb; sein Vorschlag fast alle Opernhäuser erst einmal zu schließen und einer grundsätzlichen Reform zu unterziehen, machte fast soviel Furore, wie einst der Vorschlag von Boulez alle Opernhäuser in die Luft zu sprengen.
"Schluß mit der kulturellen Trostlosigkeit, mit den jämmerlichen Aussagen der Politiker; mit der traurigen Feststellung, die jedem droht, der wie ich die Kultur zur Existenzgrundlage gemacht hat: der Tatsache nämlich, daß eine solche Trostlosigkeit es immer noch schafft, die Leute anzuziehen, anzustecken, zu begeistern."
 
Sinopolis Leben hat, wie ein Kollege zurecht schrieb, etwas Romanhaftes. Wer in das Buch eintaucht, ist eigentlich in jedem Kapitel gefesselt von der Vielseitigkeit, dem Genius, der Größe und der Ernsthaftigkeit, mit der Sinopoli stets die Tiefe des Menschseins in Musik, Archäologie und Wissenschaft suchte. Sinopoli ein Sonderling? Ich würde sagen: eher ein besonderer Mensch. Wer sich mit seiner Diskografie und seinen sonstigen Werken beschäftigt, was die eloquente Autorin in ihrem dritten Band der Biografie ausgiebig dokumentiert, kann dem nur zustimmen. Wer heuer Sinopoli hört, so geht es mir zumindest, hört viele Stücke plötzlich mit anderen Akzenten. Man hört Noten und Nebenlinien, die bisher ungehört blieben. Wagner klingt mal italienisch, mal brachial, und Mahler kommt rüber wie ein archäologisches kosmisches Trümmerfeld. Da gibt es noch viel, viel zu entdecken. Nach dieser Biographie sehe ich jedenfalls Sinopoli mit anderen Augen. Ich bin ein Sinopoli-Fan geworden.
Und wenn ich lese, was Kollegin Eleonore Büning am 2. August 2000 in der FAZ schreibt: "Der Trauermarsch zu Siegfrieds Tod ist seit langem nicht mehr so bitter und hart im Festspielhaus erklungen..." dann schaudert es den Leser irgendwie ob einer vielleicht subkutan visionären Vorwarnung, als ob eine Todes-Ahnung in dieser Interpretation steckte.
 
Im Band 2 der Biografie, der zusammen mit Band 1 ausgeliefert wird, findet der Leser eine Sammlung sehr schöner privater, meist bisher unveröffentlichter Bilder. Die Familie stellte viele persönliche Photos zu Verfügung; von der Wiege bis zum Grab. Eine gelungene Beigabe zu diesem famosen Lebensbuch, welches hoffentlich bald auch als Paperback erscheint, damit es den Gute-Nacht-Lesern (ein Buch, welches jeder Musikinteressierte einfach auf dem Nachttisch liegen haben muß!) nicht so atemberaubend schwer auf der Brust liegt. Aber was soll´s - meine Bernstein-Biografie ist noch einige Seiten schwerer. Gute Bücher haben eben ihr Gewicht... Manchmal bedeutet Quantität auch Qualität!
Fazit: Es gilt noch viel zu erfahren über diesen großartigen Menschen namens Giuseppe Sinopoli. Er war kein Superstar - er war ein ehrlicher Künstler. Ein tiefernster, großartiger Mensch mit großem Respekt vor der Musik. Wie sehr er sich auch um eben diese verdient gemacht hat, wird der dritte Band von Ulrike Kienzles monumentaler Biografie zeigen, auf die ich mich, auf die wir uns alle, jetzt schon freuen können. Selten hat ein Biograph mit soviel Feingefühl, Empathie und Herzenswärme dokumentiert. Ein ganz außergewöhnliches Buch, welches ich sprichwörtlich allen Musikfreunden ans Herz legen möchte.
 
Doch lassen wir dem viel zu früh gestorbenen Maestro Giuseppe Sinopoli das letzte Wort: "Ich bin im Hauptberuf Dirigent. Aber es wäre mir zu wenig, mein ganzes Leben lang nur eine Sache zu machen. Ich suche, solange ich lebe: ich beginne immer wieder von vorn, weil ich für das, was ich ausdrücken will, nach neuen Aspekten, neuen Zugängen, nach neuem Licht suche. Das ist der Grund, weshalb ich dauernd studiere, weshalb ich meinen Urlaub nicht auf einer Yacht, sondern in der Universität von Rom verbringe ... Ernsthaftigkeit ist die korrekte Charakterisierung. Denn ich mache alles, was ich tue, mit Ernst und nicht leichthin, etwa weil es so schick wäre zu studieren und Doktorhüte zu sammeln. Möglicher weise bin ich in meinem Beruf untypisch, weil ich kein modernes Leben führe, weder auf Fußballplätzen noch auf Champagnerpartys zu finden bin, sondern in der Wüste bei Ausgrabungen."
 
 
Ulrike Kienzle
"Giuseppe Sinopoli - Komponist, Dirigent, Archäologe"
© 2011 Königshausen & Neumann, 840 Seiten
Weitere Informationen unter: www.verlag-koenigshausen-neumann.de


Dieser Artikel ist eine Übernahme mit freundlicher Genehmingung der Zeitschrift "Der Opernfreund"