Zettelwirtschaft

von Hanns Dieter Hüsch

© André Poloczek - Archiv Musenblätter
Zettelwirtschaft

Wissen Sie, was mir neulich passiert ist? Ich muß davon berichten, weil es vielleicht eine gute Warnung für Sie enthält. Es ist bei mir mittlerweile so, daß ich mir alles aufschreiben muß. Verabredungen, Termine, Anschriften, Telefonnummern und so weiter, und dann liegen überall die vielen Zettel rum. Das allein ist schon mordsgefährlich, denn man legt schon mal eine Zeitung auf den Zettel und auf die Zeitung noch zwei Bücher und auf die zwei Bücher noch Post und dann noch ne Zeitschrift, die ich eigentlich schon längst wegwerfen wollte, und weg ist der kleine Zettel, auf dem das Datum des Treffens mit dem wichtigen Regisseur stand, der sowieso so pingelig ist. Und, o Schreck, auch noch dessen Telefonnummer, aber der Zettel ist weg, obwohl er gar nicht weg sein kann, gar nicht aus dem Haus sein kann. Den Papierkorb habe ich auch schon ausgeleert, und dabei habe ich meinen Kellerschlüssel wiedergefunden, der ganz unten auf dem Grund des Korbes lag. Ich hatte wohl beim letzten Mal, als ich den Korb im Keller in den Container ausgeschüttet hatte, den Schlüssel in den geleerten Korb getan, in der Wohnung aber vergessen, ihn wieder dort aufzuhängen, wo er immer hängt. Und jetzt ist der Zettel weg. Ganz ruhig bleiben, sage ich mir dann immer, ganz ruhig bleiben, der kann ja nicht aus diesem Raum raus, also geh noch mal systematisch die verschiedenen Stöße an Post und Manuskripten und Büchern und Zeitschriften Stück für Stück durch, und dann wird der Zettel sich schon finden. Wie schon gesagt - ganz ruhig bleiben. Es bleibt einem manchmal gar nichts anderes übrig, als sich selbst ständig anzuhalten, zuversichtlich zu sein. In letzter Zeit kommt bei mir ständig alles mögliche weg, was eigentlich gar nicht wegkommen kann, denn es sind ja nur Zettel, Papier, keine Eßwaren, nur kleine Zettel, auf denen Notizen stehen, wie  beispielsweise »Achtung! Peter anrufen!« Ich finde den Zettel dann nach drei Tagen, weil ich irgendwas auf ihn gelegt hatte, und das brauchte ich auf einmal, und dann kam auch der Zettel zum Vorschein. Aber neulich habe ich die Suche nach einem Zettel ganz eingestellt, wie ja manchmal auch Suchexpeditionen in der Arktis eingestellt werden. Ich habe gedacht, der Zettel hat sich in Luft aufgelöst. Er war einfach nicht auffindbar, und so war für mich sonnenklar, daß das Alter wieder zugeschlagen hatte. Und das ging soweit, daß ich mir sagte: »Du hast den Zettel gar nicht geschrieben, du hast den erfunden, du hast simuliert!« Vater hat wieder eine Fata Morgana gehabt. Dabei war es ein wichtiger Zettel mit einer wichtigen Adresse und einer wichtigen Zeitangabe! Alle Zettel lagen vor mir, alle waren da, nur dieser eine Zettel nicht, Herrgott noch mal! Bis ich schließlich auf des Rätsels Lösung kam: Schreib nie was Wichtiges auf die Rückseite eines Zettels, wenn auf der Vorderseite auch was Wertvolles steht! 



© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Es kommt immer was dazwischen" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung