Karla Schneider

Ein Autorenporträt

von Frank Becker

Karla Schneider - Foto © Frank Becker
Von Kindheiten, Wunschträumen
und Schneckenhäusern
oder
Zwischen Kloppe und Glück
 
 
„Es war so still im Klassenzimmer, daß man hören konnte, wie der Tafelschwamm sein Wasser verdunstete.“ Solch wunderbare Sätze sind es, die Karla Schneiders Bücher zum besonderen Lesegenuß machen. Sie hat das Vermögen der Sprache, die Gabe des Erzählens, den Vorzug ausgezeichneter Erinnerung, das Geschenk des Humors – und sie schreibt aus Passion. Ihr genauer Blick, die akkurate Beschreibung und das treffende Wort machen dem Leser Erkennen und Wiedererkennen, Betrachtung und Identifikation möglich. Genaue Recherche gehört zusätzlich zum Handwerk. Lesen als Spaziergang durch die eigene Phantasie oder das eigene Leben – mit diesem Ziel schlägt man gern ein Buch auf.
 
Seit 32 Jahren Wuppertalerin, hat die in Dresden geborene Schriftstellerin Karla Schneider,
Kolumnistin der „Zeit“ und der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, schon reichlich  Preise und Ehrungen für ihr umfangreiches Werk bekommen. U.a. war es 1989 der Astrid-Lindgren-Preis für das Kinderbuch „Fünfeinhalb Tage zur Erdbeerzeit“, 1993 der Bettina von Arnim-Preis für Kurzgeschichten; „Die Reise in den Norden“ brachte ihr 1995 Plätze in den Focus- und Deutschlandfunk-Bestenlisten ein, 1996 die Nominierung zum Kinder- und Jugendbuchpreis und die Aufnahme in die Ehrenliste des „International Book Board for Young Children“. 2008 wurde Schneider mit dem Alex-Wedding-Preis ausgezeichnet, 2009 das Buch „Wenn ich das 7. Geißlein wär´“ mit dem „Luchs“ von Radio Bremen und es wurde gleichzeitig vom Institut für Jugendliteratur zum „Buch des Monats März 2009“ gekürt. Landesstipendien ermöglichten die Arbeit an ihrem Opus magnum „Rückkehr nach Podgoritza“, die Geschichte des Geschwisterpaares Siemen und Nora, das sich nach 28 Jahren der Trennung wieder findet und die Erinnerung an die Kinderzeit in der sächsischen Heimat intensiv durchlebt.  
Karla Schneider, 1938 in Dresden geboren und nicht durch proletarische Abkunft privilegiert, hatte es in der gleichgeschalteten DDR nicht leicht, und sie ist auch nicht den leichten Weg gegangen. Fabrikarbeit, Buchhandelslehre, Journalismus (Feuilleton „Die Union“), den sie bald wegen des eklatanten Mangels an Entfaltungsmöglichkeiten an den Nagel hängte, ein Krimi im Eulenspiegel-Verlag, wieder Buchhandel und vier Jahre monatliche Ausreiseanträge, verbunden mit Schikanen. Dann 1979 endlich die Chance, den Maulkorb abzustreifen. Sie durfte den ungeliebten Staat und mußte die geliebte Heimat verlassen.
 
Ihre Bücher schreibt sie für Kinder und Erwachsene. Die Romane entstehen in der Stille ihrer
Cronenberger  Wohnung, wo sie bei idyllischem Blick, noch immer ohne PC, auf ihrer geliebten „Gabriele“ die Entwürfe schreibt.
Die autobiographisch beeinflußten Romane „Kor, der Engel“, „Zwischen Kloppe und Glück“ und „Rückkehr nach Podgoritza“ gehören als ihre persönlichsten Bücher auch zum Berührendsten ihres Œuvres. Ihr großer Roman „Die Geschwister Apraksin - Das Abenteuer einer unfreiwilligen Reise“, ein aufregendes Buch, das vom Überlebenswillen der Geschwistern Polly, Klascha, Ossja, Fedja und Dilldotschka erzählt, die sich in den Wirren nach der Russischen Oktoberrevolution allein durchschlagen müssen, entwirft das großartige Panorama einer aufgewühlten, unsicheren Zeit zwischen Moskau, Wolgograd, Rostow, Sewastopol, Charkow und Kursk mit schillerndem Personal - ein episches Werk von faszinierender Erzählkunst, zugleich ein Entwicklungsroman von Rang.
Anspruchsvoll detailgenaue historische Erzählungen, kindgerecht erzählte Geschichten und dramatische Entwicklungsromane stehen in Karla Schneiders Werk gleichberechtigt nebeneinander. Abseits von jedem hochgestochenen literarischen oder stilistischen Experiment, ohne pseudointellektuellen Schnickschnack schreibt Karla Schneider ehrliche, vergnügliche, höchst amüsante, lesens- und schenkenswerte Bücher. Übrigens: Lob für ihr sprachlich und stilistisch aus der Menge herausragendes Werk weist sie bescheiden zurück: „Das bin ich dem Leser schuldig.“
 
Die Märchensammlungen der Brüder Grimm inspirieren Autoren immer mal wieder zu neuen Interpretationen, Umdichtungen, mundartlichen Nacherzählungen und dümmlichen Übersetzungen in eine aufgesetzte Jugendsprache. Die Grande Dame der Jugendliteratur, Karla Schneider, begeht
einen völlig anderen Weg. Zwei der bekanntesten Märchen, ´Rotkäppchen` einerseits und ´Der Wolf und die 7 Geißlein` andererseits, fügt sie zu einem Erzählstrang zusammen, versetzt sich in einen kleinen Jungen und läßt ihn sagen „Wenn ich der Jäger wäre, hätte ich es so gemacht: …“. In der Fortsetzung der Phantasiereise spielt er dann eines der Geißlein und fabuliert  „Wenn ich das 7. Geißlein wär´…“. (J.K.)
 
Karla Schneiders jüngster Erfolgsroman ist in den 1950er Jahren der jungen Bundesrepublik angesiedelt, in einer Zeit des Aufschwungs einerseits und der noch nachklingenden Nachkriegs-Unsicherheit andererseits. Die 13-jährige Wilhelmina wird durch die Spielsucht des durchaus liebenswerten Stiefvaters in eine verzweifelte Situation gestürzt: er hat die Wohnung der kleinen Familie samt Inventar als Pfand eingesetzt und verloren. Von einer Klassenfahrt zurück, steht Willa vor verschlossener Tür, hinter der fremde Menschen von ihren Tellern essen, in ihren Möbeln wohnen und ihre Filmprogramm- und Autogrammkarten-Sammlung auf den Müll geworfen habe. Eine Welt stürzt ein. Doch es tun sich überraschende Wege auf, die Willa mit ihrem im Krieg gefallen geglaubten Vater zusammenbringen und sie in die Traumwelt des Filmgeschäftes führen. Wieder hat Karla Schneider mit geschickter Hand und fesselnden Erzählfäden eine Geschichte gewoben, die sowohl jugendliche Leser - hier vielleicht insbesondere Mädchen -, als auch Erwachsene nicht losläßt. 
 
Karla Schneiders Bücher und Publikationen (Auswahl):
Die Brauerei auf dem Kissen, Berlin/DDR 1974 (unter dem Namen „Karla Sander“)
Der Mensch und sein Drachen, Düsseldorf (u.a.) 1988
Spätprogramm, Lohr 1988
Raben-Beiträge, Zürich, ab 2008
Die Suche nach der Lerche, Erlangen 1989
Fünfeinhalb Tage zur Erdbeerzeit, Hamburg 1989 (Astrid-Lindgren-Preis)
Vielleicht sind Schränke gar nicht so, Lahr 1989
Der Knabenkrautgarten, Zürich 1989
Ritter Suppengrün und das süße Geheimnis, Würzburg 1991
Lauter Windeier, Weinheim 1992
Die abenteuerliche Geschichte der Filomena Findeisen, Weinheim 1992
Kor, der Engel, Zürich 1992
Wenn man Märri Schimmel heißt, Weinheim 1993
Almuth und Helene, Zürich 1993
Die Reise in den Norden,. Weinheim 1995 (Focus-Bestenliste)
Merits Geburtstag, Berlin 1996
Matti Sörensen und Petja Wuppdich, München 1996
Zwischen Kloppe und Glück oder Wer sammelt hat mehr vom Leben, Weinheim 1997
Der Zaun, Hamburg 2000
Rückkehr nach Podgoritza, Frankfurt am Main 2001
Der klügste Hase unter der Sonne, Weinheim 2003
Glückskind, München 2003
Marcolini oder wie man Günstling wird, München 2007
Wenn ich das 7. Geißlein wär', Köln 2009  (Buch des Monats/“Luchs“ Radio Bremen)
Holly Vogeltritt. Ein Märchen, Düsseldorf 2009
Der Sommer, als ich Filmstar war, München 2010
 
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