Nach dem großen Sterben

von Victor Auburtin

Victor Auburtin
Nach dem großen Sterben
 
Im Jahre 1348 und in den folgenden Jahren kam über Europa eine Pest, die man den Schwarzen Tod nannte. Zwanzig Millionen Menschen starben in den Ländern, und es war schlimmer als der schlimmste Krieg. Zu jener Zeit saß in Limburg an der Lahn der Kleriker Tileman Elhen v. Wolfshagen, der hat alles, was er erlebte und sah, mit sauberem Gänsekiel auf Pergament geschrieben. Böses und Gutes. Zeile für Zeile; und das ist die berühmte Limburger Chronik geworden. Diese Chronik ist jetzt in einer neuen Ausgabe erschienen (bei Eugen Diederich), und ich blättere in ihren wohlgedruckten Seiten.
 
„Item da man schrieb tausenddreihundert und in dem neunundvierzigsten Jahre, da kam ein groß Sterben in deutsche Lande, das ist genannt das große erste Sterben. Und sturben die Leute zu Mainze, zu Cöllen und also meistlich alle Tage mehr denn hundert Menschen. Item über ein Jahr, da das Sterben, als vorgeschrieben steht, ein Ende hatte, da hub die Welt wieder an zu leben und fröhlich zu sein, und machten die Männer neue Kleidunge; und die Frauen trugen weite Ausschnitte, daß man die Brust beinahe halbe sah. Item in dieser Zeit war harte Zeit und teure Jahr, also daß ein Malter Korns galt fünf Pfund Heller und zwee Turnos und hatten arme Leute großen Gebrechen und Gemangel. Die Quart Weines galt zwanzig alte Heller.
 
Und dann erzählt der Chronist, daß nach dem Sterben alle Welt eine merkwürdige Tanzwut überfallen habe; auf den Straßen und in den Häusern tanzten die Leute, bis sie umfielen. Man versuchte sie zu heilen, indem man ihnen das Johannes-Evangelium auf den Leib legte oder indem man ihnen Fußtritte gab. Tod und Tanz drehen ihren Walzer durch die Geschichte; und immer wird über die Preise geklagt, daran ist gar nichts Neues. Aber merkwürdig sind diese Mittel gegen das Tanzen, und man sollte sie einmal in unseren Dielen an den Leuten versuchen, die nie genug haben. Das Auflegen des Johannes-Evangeliums wird wohl nicht viel fruchten, aber von den Fußtritten könnte man sich Erfolg versprechen.  
 
 
(Berliner Tagblatt 1922)