Abende von Berlin – Am Wannsee

Ein Hauptstadtfeuilleton

von Jörg Aufenanger

Jörg Aufenanger - Foto © Frank Becker
Abende von Berlin IV –
Am Wannsee
 
 Es ist kurz vor zwölf Uhr am Mittag, als ich am Großen Wannsee Nummer 56 ankomme. Ich drücke auf den Klingelknopf, das schwere Doppeleisentor öffnet sich. Ich gehe den Kiesweg auf die Villa zu und höre mich auf dem Kies gehen, obwohl ich nicht Stiefel wie manche von ihnen unter den Füßen habe. Gleich muß ich mich entscheiden, gehe ich links oder rechts um das bepflanzte Rondell herum, um zum Eingang zu gelangen. Beiderseits des Wegs stehen mit grüner Plastikfolie verhüllte und mit Stricken gefesselte Statuen. Es ist Winter, und so sind auch die Bänke unter grüner Folie versteckt, nur ihre Beine sind zu sehen. Ich habe mich entschieden, gehe links herum, letzte Eisplatten liegen noch auf dem Kies, drum herum Tauwasser. Damals, 1942, war es kälter, 13 Grad Minus, ein strenger Winter, es lag Schnee. Ich schelle erneut, die Tür der Villa öffnet sich leise surrend sofort. Ich verharre im Vestibül, wo die Herren Hut und Mantel abgelegt haben werden. Den Ort aufsuchen, wo sie dann gesessen haben, doch nichts wird mir erklären! Nichts wird mich je verstehen lassen, kein Ortstermin.
„Da die zur Erörterung stehenden Fragen keinen längeren Aufschub zulassen, lade ich Sie daher zu einer Besprechung mit anschließendem Frühstück ein“ hatte der Chef der Sicherheitspolizei und des SD aus Prag Anfang Januar 1942 an ausgewählte Ministerialbeamte und SS-Führer geschrieben. Fünf Monate später war Heydrich tot, gestorben nach einem Attentat, verübt von tschechischen Widerstandskämpfern.
Ich begebe mich an den Ort, wo die vierzehn Personen mit Heydrich gesessen und über die „Endlösung der europäischen Judenfrage“ beraten haben, bin nach rechts gegangen und habe einen lichten, länglichen Raum betreten, an dessen Ende eine Art Erker zum Park der Villa weist. Ich schaue nach links hinüber auf den See zum nun verwaisten Strandbad, an dessen Eingang eine Tafel daran erinnert, daß der Leiter des Bads, Hermann Clajus, sich im März 1933 in seiner Dienstwohnung das Leben genommen hat, da er erfahren hatte, er würde von den neuen Machthabern und ihren Beamten entlassen.
Ich wende den Blick vom See ab, drehe mich um, schaue in ihre Gesichter. Fünfzehn Augenpaare schauen mich an. Aber ich, sehe ich was? Und was sehe ich, wenn ich sehe? Was man anschaut, schaut einen auch irgendwie an. Sie blicken weder besonders diabolisch, gefährlich, verschlagen, sind fast alle Beamte des Reichs, nur Heydrich und Eichmann haben die Augen zu schmalen Strichen zusammen, wohinter man etwas vermuten könnte. Georg Leibbrandt, ein Experte für die Unterwerfung des Ostens, lächelt gar, einzig der Gestapochef Heinrich Müller, der für die Umsetzung des Massenmords zuständig sein wird, schaut grimmig. Auch die Physiognomie dieser Männer verrät nichts, sie sehen aus wie andere Männer der Zeit. Ich schaue auf die Geburtsjahre, sehe, die meisten waren eher noch jung in diesem Jahr 1942, hatte aber die Jugend hinter sich, sind Mitte dreißig, Männer, die mitten im Leben stehen. Viele haben studiert, sind promoviert, vor allem jene, die in den Ministerien arbeiten. Sie stehen auf der mittleren Stufe der Karriereleiter. Heydrich selbst, stammt aus einer Musikerfamilie, der Vater war Komponist, es selbst hat lange Zeit Geige gespielt, auch Komposition studiert, bevor er..., aber Goebbels hat auch einen Roman verfaßt. Was schützt schon davor, ein Massenmörder zu werden?
Eine junge, gebildete Elite traf sich an diesem Dienstag-Mittag am Wannsee, nicht im Herzen Berlins, unweit ihrer Ministerien. Sie sind mit dem Dienstwagen gekommen, haben die Avus genommen, hinaus an den See. Bevor man berät, plaudert man, steht herum, schaut auf den See, wohl auch hinüber zum Strandbad, wie ich heute, in das schon lange kein Jude mehr Einlaß erhielt. Schließlich setzt man sich um den langen Tisch herum, der runde war damals noch nicht erfunden, Heydrich, der alles genau vorbereitet hat, in einem langen Vortrag es vorgibt, das unfaßbarste und schauderlichste Dokument, daß es geben kann, in dem beschlossen wird, sämtliche Juden in Europa, elf Millionen, die tabellarisch penibel aufgelistet sind, von Eichmann an seinem Schreibtisch, zu vernichten. Danach berät man, nicht lange, knapp neunzig Minuten, man ist sich einig, das Dokument sichert nur noch mal ab, was eh schon beschlossen war und was im Osten schon begonnen hatte, der Völkermord. Und Heydrich ist zufrieden mit dem Konsens. Er hat die staatliche Verwaltung eingebunden. Danach ist man aufgeräumter Stimmung, soll reichlich Cognac getrunken haben, auf das was man hinter sich gelassen und vor sich hat. Die Vernichtung. Man steht noch eine Weile zusammen, dann verabschiedet man sich. Heil Hitler. Und ein jeder ging den Weg, den er gekommen ist, über den Kies zu den Karossen, fährt zurück zu den Dienstsitzen oder nach Hause. Alltag ist aller Tag.
„Das Morden brachte die Idee des Genozids hervor, wie auch umgekehrt die Idee des Genozids das Morden“, hat Marc Rosemann in seinem Buch „Die Wannseekonferenz“ geschrieben, dessen englischer Originaltitel lautet: „The Villa. The Lake. The Meeting.“
Überall in den besetzten Gebieten des Ostens, in Polen, der Sowjetunion waren lokale SS-Führer schon dabei, Juden zu deportieren, zu erschießen und zu vernichten, so hätte es dieser Zusammenkunft kaum bedurft, um den Genozid durchzuführen. Nur die deutsche Gründlichkeit fehlte noch, der Eichmann verfallen war, mit seiner Liste der europäischen Juden. Und so wußten die Telnehmer der Konferenz auch nicht so recht, warum sie an den Wannsee gekommen waren. Doch das Protokoll, das Eichmann anfertigte, das Schwarz-Weiße auf einem Blatt Papier, gibt nur noch den Gedanken eines perfekt organisierten Massenmords wieder. Und alle sagten Ja dazu und gern ja. Und sie wußten genau, wozu sie ja sagten.
Warum versuche ich nur immer wieder, etwas zu verstehen, was nicht zu verstehen ist? Vergeblich, auch hier bei diesem Ortstermin. Und doch gehe ich seit zehn Jahren, seit dem 60. Jahrestag der Konferenz kurz vor 12 Uhr in das Haus der Wannseekonferenz. Folge ihrem Weg. Nach einer Stunde verlasse ich den Ort wieder, höre erneut meine Schritte auf dem Kies, bin dann draußen vor der Tür. Nebenan war die Villa Oppenheim, in deren Garten bis 1942 die jüdische Gartenbauschule untergebracht war, unter der Leitung von Jizchak Schwersenz, einige Meter weiter liegt die Villa von Max Liebermann, wo der Maler den Sommer verbracht und den Garten zum See hin unzählige Male gemalt hatte. Idylle. Alles liegt auch nun ruhig und beschaulich am Weg, den ich zurücknehme. Nichts stört die Ruhe. Nichts?
In diesem Jahr aber, am 20. Januar 2012, konnte ich das Haus der Wannseekonferenz nicht aufsuchen, denn „unser“ Bundespräsident war zugegen und mußte eine Rede halten. Da war kein Einlaß für mich.
Hatte überlegt, ob ich am Abend des Tages noch mal hinausfahre zum Wannsee. Nein. Es ist zu spät, schon lange nach zwölf.
 

Jörg Aufenanger                                                                                                                      26.1.2012