Klaus Berg von der Napola

Eine Erzählung

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl - Foto Frank Becker

Klaus Berg von der Napola

Der Besucher, der in der Kanzlei vor Gärtner saß, hatte einen angestrengten Gesichtsausdruck. Nichts wolle er, eigentlich gar nichts, und schon gar keinen Prozeß, um Gotteswillen. Nur erkundigen, er verstehe doch, nur nachfragen. Da sei doch die Frau Kauf – aha, die kenne Gärtner, hätte er auch vermutet. Sie selbst sei es, die ihm gesagt habe, da sei ein Vermächtnis für ihn vorgesehen, in ihrem Testament, versteht sich, und das sei rührend von ihr, er besuche sie auch regelmäßig.

„Sie wissen also, daß es erst im Todesfall akut wird?“ fragte Gärtner.

Aber ja doch, selbstverständlich. Er sei alles andere als geldgierig, sagte der Besucher, der Klaus Berg hieß. Für ihn sei nur wichtig, daß die Tante Elsbeth weiterhin schön gesund bleibe und noch lange lebe...
Auf der anderen Seite sei sein Problem: Seine Lebensplanung. Er sei ein Mann präziser Planung, beim Militär habe sich das gezeigt, ja, schon vorher, auf der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt, da habe man diese Fähigkeit bereits erkannt.
Und so gehe es jetzt für ihn darum, zu erfahren, ob dies ein namhafter Betrag sei, den er im Falle – er möge lange nicht eintreten! – des Todes von Tante Elsbeth zu erwarten habe. Das würde seine Lebensplanung schon jetzt entscheidend beeinflussen. Denn er sei in einer völlig unbefriedigenden Berufssituation unter lauter unmöglichen Menschen. Glauben Sie, daß nur einer von denen noch einen Funken Nationalstolz besitzt?

„“Es ist so,“ sagte Gärtner, „ich darf Ihnen überhaupt nichts sagen. Nicht einmal, ob das Papier, auf das sie ihr Testament zuerst geschrieben hatte, grün oder gelb war.“

„Aha,“ sagte Berg, „aha.“ Er stand stumm auf, machte eine Art von Verbeugung und ging.

Das Wandern an den Wochenenden hatte Gärtner beibehalten. Es half ihm immer wieder, sich über den Kleinmut emporzuschwingen, der ihm sagte, daß dies hier in Wahrheit immer noch ein erbärmliches Leben sei, eine Karikatur dessen, was er sich bei der Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft vorgestellt und vorgenommen hatte. Hatte er nicht vorgehabt, glücklich zu sein, natürlich auch mit wichtigen Aufgaben betraut, aber wiederum auch zufrieden, selbst dann, wenn er nicht ganz so wichtig sein sollte?
Viele Autos waren unterwegs. Die Wege, die rechts und links zu Wiesen und bewaldeten Höhen hinauf führten, zeichneten sich lehmfarben ins Grün der Hänge beiderseits.

In diesem Gasthof da abseits der Straße hatte vor einigen Tagen Klaus Berg den Versuch aufgegeben, sein Land der Hoffnung zu erreichen. Gärtner wußte nicht, wie es für ihn ausgesehen hatte – für den Kriegseinsatz war Berg noch zu jung gewesen -, aber es war sicher verbunden mit Glanz, Größe und Wohlgefühl. Schließlich hatte er schon als Junge zu einer Elite gehört, er war auf einer „Napola“ gewesen, wie er Gärtner berichtet hatte. Vielleicht war es auch ein Bild in Berg selbst, das seine Sehnsucht nährte, er vor achtungsvollen Menschen stehend, vielleicht auf einer schrägen Ebene, er oben, die anderen unten, aber vor allem: sie alle sahen ihn an. Noch genauer: Sie blickten zu ihm auf. So hatte er, vor 25 Jahren, vor gehorsamen Jungen gestanden, während die Fahne über einer  Burg flatterte.
Und wie hatte er die zwei Jahrzehnte nach Kriegsende überlebt? Konnte jemand ununterbrochen von einem größeren, gesteigerten Leben träumen? Oder hatte er sich mit Gleichgesinnten getroffen? Konspirativ, elitär? Gärtner konnte es sich nicht vorstellen.  Richtige Spät-Nazis waren anders, lauter, nach Biertisch riechend, nicht so spinnös, meinte er.
Als alles vorbei war, erfuhr Gärtner noch mehr von Elsbeth Kauf, die nun ihr Testament änderte.

Klaus Berg war in einer Metallwarenfabrik beschäftigt gewesen. Er war  Angestellter, fiel aber dadurch auf, daß er besonders markig und straff durch die Räume ging, der Körper und die Hände arbeiteten, die Beine trugen die ganze Person hin und her durch die Räume. Diese Beine waren geschützt durch schwarzglänzende Schaftstiefel, Bergs Gesicht war angespannt, er blickte oft halb aufwärts.

Klaus Berg war geschult und dressiert worden zu der Überzeugung, zur Elite eines fast heiligen Volkes bestimmt zu sein. Gärtner dachte, daß derjenige , der diese Überzeugung einmal hatte, niemals mehr darauf verzichten wollte. Es konnte bei Berg so stark gewesen sein, wie das Gefühl eines Abhängigen, der nicht auf seine Drogen verzichten will.
Klaus Berg mußte in seiner Stellung sehr einfache Arbeiten ausführen, Listen führen, Formulare ausfüllen, Post kuvertieren, Akten hin- und hertragen. Gärtner ahnte, während er Frau Kauf zuhörte, daß Berg von quälendem Größenwahn erfüllt war, während er diese für ihn langweilige Arbeit verrichtete.

Nietzsche war ein Mann, den er schätzte, und von dem zitierte er alles, was zum Überlegenheitswahn passte. Nur solche Zitate kannte er von ihm, die anderen Schriften nicht.
„So etwas wie „Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht,“ sagte Elsbeth Kauf. „Stellen Sie sich das vor! Wer sagt denn so etwas!“
„Nietzsche wahrscheinlich,“ sagte Gärtner.
„Er war immer allein,“ sagte Frau Kauf mitleidig. „Man merkte, daß sein Leben schwer für ihn zu ertragen war. Ich habe  sogar geahnt, daß es auf die Dauer so nicht möglich war.“

Gärtner mochte den Weg am Fluß entlang. Einmal begegnete ihm da Klaus Berg. Beim Anblick Gärtners wurde Berg lebendiger, er grüßte mehrmals mit einer halben Verbeugung herüber, und im Weitergehen winkte er sogar noch einmal zurück.
Wieso geht der mit einer Aktentasche spazieren? fragte sich Gärtner.

Gärtner erfuhr es erst drei Tage später. Da kam von irgendwoher die Nachricht, daß sich Klaus Berg in einem Gasthof in der in der Nähe der Kohlfurt eingemietet  - und umgebracht habe. Am späten Vormittag hatte man ihn in seinem Zimmer gefunden.

Er hatte ein Leben ohne Hoffnung aufgegeben. Vielleicht hatte er an diesem Tage zum ersten Male gedacht, daß sein Leben hoffnungslos war.


„Ach Gott, der Arme“, sagte die Sekretärin im Vorzimmer: „Man muß alles ganz anders machen als er. So etwas darf einem nicht passieren. Man darf niemals unglücklich sein.“


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007