Glück Auf Reisen (1)

Jagdglück

von Hermann Schulz
Jagdglück
 
Nach der Lehrzeit als Buchhändler ging ich in den Bergbau, bis durch harte Arbeit genug Geld zusammen war für eine Reise in den Orient. Es reichte für eine Fahrkarte bis Istanbul, eine neue Hose und ein paar neue Schuhe. Mir blieben noch 80 oder 100 Mark, das würde ausreichen für ein Jahr. Meine Schwester Margret hatte mir in ihrer unerschöpflichen Güte noch eine Luftmatratze geschenkt und einen Fotoapparat.
Der erste Blick über den Bosporus ließ mich alle trüben Gedanken an die Vergangenheit vergessen. Ein starker Augenblick: Sonnendurchfluteter Abendnebel über dem Wasser, heimkehrende Fischer, die Galatabrücke voller Menschen, die Blaue Moschee, der Muezzin rief zum Gebet.
Meine Versuche, eine billige Unterkunft zu erfragen, scheiterten zunächst an fehlenden Sprachkenntnissen. Die Passanten, die ich fragte, identifizierten mich als Alman, als Deutschen, und jemand zeigte mir den Weg zum Deutschen Club Teutonia, von dem ich noch nie gehört hatte. Ich überquerte die Brücke über den Bosporus und tauchte ein in ein Gewirr von engen Gassen, die alle steil bergauf zu führen schienen; Fußmarsch von einer Stunde und noch viel Fragerei erforderte es, - Alman Cülüp Teutonia hatte ich mir eingeprägt - , bis ich vor dem ehrwürdigen, in eine Häuserzeile eingeklemmten Gebäude vom Club Teutonia stand.
Aber kein Teutone in Sicht! Die türkische Bedienung sprach leider auch kein teutonisch und wußte zunächst nichts mit mir anzufangen; ein Kellner zeigte schließlich auf eine Treppe und bedeutete mir, hochzusteigen. Mangels Alternativen schleppte ich ratlos meinen Koffer bis zur obersten, der 5. Etage. An der Tür las ich das Schild mit einem deutschen Namen, ich klopfte, niemand antwortete. Inzwischen war es stockdunkel geworden. Ich wurde es müde, immer wieder den Zeitschalter zu bedienen - und schlief schließlich auf der Treppe ein. Geweckt wurde ich von dem Inhaber dieser Wohnung, der gegen Mitternacht nach Hause kam, es war der deutsche Seemannspfarrer. Er bot mir für ein paar Tage ein Schlaflager und gab mir die ersten sachdienlichen Tips für meine Reise. Dieser Mann, dem ich vor wenigen Jahren noch einmal zufällig begegnete, hatte zu meiner Überraschung Verständnis für mein abenteuerliches Vorhaben.
 
Wenige Tage später saß ich in einem Bus, der in 18 Stunden die Stadt Antalya am Mittelmeer erreichte; damals noch eine Kleinstadt, heute das von Millionen bewohnte und besuchtes Zentrum des türkischen Tourismus. Dort sei es schon warm, hatte mir der Seemannspfarrer gesagt und dort würde ich leicht eine billige Unterkunft finden. Ich hatte ihm schamhaft nicht offenbart, daß „billig“ angesichts meiner Finanzen, ich besaß weniger als 100 Deutsche Mark, auf die Dauer nicht ausreichen würde. Wer wenig Vernunft und Erfahrung besitzt, braucht eine umso größere Portion Einfalt, um zu überleben. Manche Geldprobleme sind rechnerisch nicht zu lösen, sondern nur in der Praxis.
Ich meldete mich beim Gouverneur der Provinz Antalya an; das war, als würde ein junger Türke ohne Deutschkenntnisse in Düsseldorf in das Büro des Ministerpräsidenten marschieren, um seinen Rat einzuholen. Der vornehme Mann mir gegenüber war sicher verdutzt, aber er lächelte freundlich während unseres Gesprächs in Englisch, und half mir weiter. Ich konnte nicht ahnen, daß ich ihn zwei Monate später unter erschreckenden Umständen wiedersehen würde. Am Jirmijedi Mayes, dem 26. Mai, trieb ihn der Pöbel durch die Straßen, schlug ihn und bewarf ihn mit faulen Früchten; er gehörte zur Partei des gerade gewaltsam gestürzten Ministerpräsidenten Menderes und wurde von einer aufgeputschten Menge in Sippenhaft genommen.
Er hatte mir zu einem Häuschen am Strand von Koniyalti verholfen, das ich kostenlos bewohnen durfte. Das Haus hatte keine Möbel, aber eine türkische Toilette und fließendes Wasser. Vor dem Fenster lag ein weiter Kiesstrand, an den sich meine Fußsohlen schnell gewöhnen sollten. Ich schlief auf der Luftmatratze, bis ich eine Pritsche, einen Tisch, zwei Stühle und einen kleinen Spirituskocher auftreiben konnte.
 
In den ersten Tagen widmete ich mich dem Wörterbuch, der Umgebung und den mitgebrachten Lektüren, den Werken von Mörike, Conrad Ferdinand Meyer, Frank Wedekind und einigen Dutzend Reclamheften. Dem Wunsch, diese Stadt als meine Stadt zu erobern, stand noch meine Schüchternheit entgegen und eben die fehlenden Kenntnisse des Türkischen.
Es sprach sich in Antalya bald herum, daß dort am abgelegenen Strand von Konyalti ein junger Deutscher leben würde, der immer in Büchern läse. Manchmal kamen Besuchergruppen, blieben staunend stehen – und gingen wieder. In Antalya passierte damals sonst nicht viel und Ausländer tauchten selten auf. Die erste wichtige Begegnung hatte ich aber nicht etwa durch Bücherfreunde oder Lehrer, die meine Sprache beherrschten, sondern in einem Frisiersalon, wo ich meine Haare schneiden lassen wollte. Im Stuhl neben mir saß ein hünenhafter Türke, dessen Gesicht für die Rasur eingeseift war und der ein grottenschlechtes Englisch mit mir sprach. Er bedeutet mir, er wolle auf mich warten und mich mitnehmen. Welche Absicht er verfolgte, dafür reichten seine Englischkenntnisse oder mein Vermögen, ihn zu verstehen, nicht aus. Unterwegs durch enge Gassen sprach er von seiner Jagdleidenschaft. „I´m very hunting“, dieser Satz ist mir im Gedächtnis geblieben, und der ganze wunderbare Kerl, den ich Juri nennen sollte, sowieso. Warum er mich mitschleppte, erfuhr ich, als wir sein Haus betraten. Ein ganz aus Holz errichtetes Prachtanwesen, mit verzierten Fenstern und Fassaden. Ich lernte seine Frau kennen – und war erleichtert. Sie war die Tochter des legendären bayerischen Innenministers Alois Hundhammer, an den sich manche vielleicht noch erinnern; wegen seiner reaktionären Haltung, vielleicht auch wegen seines unvergeßlichen bayerischen Bartes. Zum Leidwesen des recht katholischen Ministers hatte die schöne Tochter dieses türkische Prachtexemplar mit Namen Nurettin Tekin Kerimoglu geehelicht. Es war für mich eine glückliche Begegnung! Bald ritt ich auf wunderbaren Araberpferden über seine Baumwollplantagen und begleitete ihn an vielen Wochenenden zur Wildschweinjagd. Diese Jagden waren aufwendige Unternehmungen. Wir, die Jäger, fuhren um drei Uhr früh von einer Teestube als Sammelstelle mit einem Lastwagen in das Taurusgebirge. Zwanzig, dreißig Männer, einige mit abenteuerlichen alten Flinten ausgestattet; sogar ein Gehbehinderter mit zwei Krücken war dabei, getrieben von Jagdleidenschaft. Daß er nie zum Schuß kam, schien ihn nicht zu stören.
 
Die Kadaver der erlegten Schweine blieben im Wald liegen, willkommener Fraß für Wölfe, Füchse und Raubvögel - bis ich meinen neuen Freund Nurettin schüchtern fragte, - ich dachte immer an meine Ernährungslage - ob ich nicht eines dieser Schweinchen mitnehmen dürfe; ich sei ja nun Christ und denen sei Schweinefleisch nicht verboten. Er war der Anführer, Respektsperson und dazu weltoffen; das Schwein wurde an den Wagen gebunden und Nurettin verpflichtete einen mitjagenden Metzger, das erlegte Tier für mich zu schlachten. Kurz vor meinem Häuschen machte der sich allerdings aus dem Staub, ein Schwein zu schlachten, war für ihn als Moslem eine Zumutung.
Ich übte mich also in Verständnis für die fremde Kultur, nahm mein kleines Taschenmesser und schlachte die ganze Nacht, mit beiden Armen mit Innereien und Knochen kämpfend. Am nächsten Morgen packte ich das schiere Fleisch in eine große Tasche, alles andere schleppte ich für die wilden Tiere in die Steppe, möglichst weit weg. Ich wollte meine Ausbeute ins Kühlhaus bringen, von dem ich gehört hatte.
Welches Fleisch bringst du da?, fragte mich der Verwalter mißtrauisch. Auf dieser einfachen Ebene konnte ich mich schon auf Türkisch verständigen. Schweinefleisch, domus-eti, erklärte ich wahrheitsgemäß. Er blieb ganz freundlich, sagte aber bedauernd, das könnte er den anderen Mietern von Kühlfächern nicht zumuten. Ich ging mit meinem Sack Fleisch in ein Café, trank einen Tee, und ging noch einmal zurück. Dieses Mal hätte ich Rindfleisch, dana-eti, sagte ich. Ohne mit der Wimper zu zucken, vermietete er mir ein Gefrierfach. Das Fleisch reichte für einige Wochen als Grundverpflegung. Bei Dunkelheit kamen oft türkische Freunde, baten mich ängstlich, die Fenster zu verhängen, um unbeobachtet ein bißchen von dem köstlichen Fleisch zu probieren. Allah wird es ihnen nachsehen.
 


© Hermann Schulz - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2012
Redaktion: Frank Becker