Der Freund von Mark Twain

von Hermann Schulz
Der Freund von Mark Twain
 
Vor einigen Wochen stieg ich in den ICE Düsseldorf – Utrecht, um in Holland an der Küste ein paar Tage Urlaub zu machen. Ich fand sogleich ein Abteil, in dem nur ein älterer Herr saß und mit einer Lupe vor der Nase eine Zeitung las. Höflich fragte ich, ob hier etwas frei sei; er antwortete überaus freundlich, ich sei willkommen. Also nahm ich Platz und holte mein Buch aus dem Koffer.
Aus dem Lesen wurde nichts, denn der Mann begann sogleich ein Gespräch; in sehr gutem Deutsch mit holländischem Akzent. Es stellte sich heraus, daß er über dreißig Jahre lang in Deutschland und aller Welt Filme gedreht hat und nun, da fast achtzig Jahre alt, in Norddeutschland mit seiner deutschen Frau seinen Lebensabend verbringt. Er fragte, warum ich Holland als Urlaubsziel gewählt hätte, das Land sei doch so teuer geworden; er führe nur noch zu Familienfeiern in seine Heimat.
Er sei fast blind, das geliebte Fahrradfahren sei nur auf bekannten Wegen noch möglich. Seine Tochter habe ihn in Bonn in den Zug gesetzt, ihm die Toilette gezeigt und in Amsterdam würden ihn Verwandte abholen und ihm helfen.
Ich erzählte im Gegenzug, in Holland hätte ich viele sehr gute Freunde, meine ganze Sympathie gehöre diesem Volk. Nur: Bei Geschäften hätten Holländer mich immer übers Ohr gehauen; sie wären persönlich ehrenwert, hätten als altes Händlervolk aber wohl kein Unrechtsbewußtsein. Alles müsse man schriftlich machen, möglichst mit Notar. Über seine Anekdoten über Deutsche und meine über Holländer lachten wir herzlich.
Vor der Grenze kam der Schaffner, mit dem wir launig plauderten – auf Holländisch und Deutsch, er blieb fast zehn Minuten in unserem Abteil und hatte offensichtlich seine Freude an der Unterhaltung.
Als der neue Freund die Toilette aufsuchen mußte, bot ich ihm Hilfe an, aber er winkte ab, das schaffe er ohne Probleme.
 
Wieder an seinem Platz, erzählte er mir eine Geschichte, die er aufzuschreiben gedenke, denn hin und wieder betätige er sich als Schriftsteller: Er sei morgens auf dem Weg mit dem Fahrrad zum Brötchenholen gewesen. Da sei ein struppiger Mann in braunem Anzug und ohne Gepäck plötzlich aus einem Maisfeld gekommen und habe ihn auf Englisch nach dem Weg nach Berlin gefragt. „Mit der Eisenbahn?“, habe er gefragt und der Mann habe genickt. Weil nun der nächste Bahnhof fünf Kilometer entfernt war, hielt mein holländischer Freund einen befreundeten Bauern an, der gerade mit dem Traktor unterwegs war. Der versprach, den seltsamen Fremdling, der sich nuschelnd mit Twain vorgestellt hatte, am nächsten Bahnhof abzusetzen. Zwei Monate später kam mein Freund nach Hause und seine Frau sagte ihm: „Da war ein Besucher für dich da. Twain oder so ähnlich. Er läßt dir ausrichten, du sollst weitermachen mit dem Schreiben…!“
Eine magische Geschichte.
 
Wir näherten uns Utrecht, ich wuchtete schon meinen Koffer auf den Flur. Mein neuer Freund wollte, bevor er wieder allein im Abteil war, schnell noch einmal die Toilette aufsuchen. Er kam zurück und ich beschloß, schon im Mantel, ihm zum Abschied die Hand zu reichen. Da klopfte er plötzlich auf seine Jackentasche, kramte in seinem Gepäck. „Mein Portemonnaie ist weg!“ Er war sichtlich aufgeregt. Ich aber noch mehr, weil mich eine Flut von Gedanken überfiel. Einem Halbblinden, während er auf dem Klo ist, rasch das Portemonnaie klauen – und dann aussteigen, auf Nimmerwiedersehen! Eine tolle Gelegenheit für einen Gauner!
Der Zug fuhr schon langsamer. Ich schlug vor, gemeinsam auf der Toilette zu suchen. Vergeblich. „Suchen Sie noch einmal alle Taschen durch!“ Vergeblich. Wir suchten den Boden des Abteils und alle seine Gepäckstücke ab. Vergeblich.
„Ich steige nicht aus, bevor nicht Ihr Portemonnaie wieder da ist“, sagte ich, rief den vorbeigehenden Schaffner und informierte ihn über unser Problem. Ich hatte den Eindruck, er blickte mich mißtrauisch an, beteiligte sich dann aber eifrig an der Suche.
„Suchen Sie bitte mein Gepäck durch und meine Kleidung!“, forderte ich den Schaffner auf.
„Aber ich bitte Sie!“, versuchte mich mein neuer Freund zu beruhigen. „Sie glauben doch nicht etwa, daß ich annehme …?“
Der Schaffner sprach ein paar Worte in sein Handy, vermutlich um die Abfahrt des Zuges zu verzögern (oder um die Polizei zu rufen). Ich verstand nichts und stand hilflos da, war aber nicht bereit, auszusteigen. Da zauberte der Schaffner eine Taschenlampe aus seiner Uniform, legte sich noch einmal auf den Boden und leuchtete unter den Sitz des Holländers. Endlose Sekunden vergingen.
Er förderte eine Geldbörse zu Tage. Irgendwie war sie durch eine Unachtsamkeit des Besitzers bis in die letzte dunkle Ecke gerutscht.
„Jetzt können Sie beruhigt aussteigen“, beschied er mich. Der Holländer drückte mir die Hand und gab mir seine Adresse.
Warum war ich so verunsichert? Hatten mich die vielen kleinen Gaunereien und Schwindeleien eingeholt, die ich mir in der Kindheit zuschulden habe kommen lassen?
 
Ein paar Tage nach meiner Rückkehr rief mich der Filmemacher an. „Hier ist der holländische Freund von Mark Twain. Erinnern Sie sich?“
 

Hermann Schulz leitete bis 2001 den Peter Hammer Verlag und lebt heute als Autor in Wuppertal. 2009 erhielt er für sein Bilderbuch „Die schlaue Mama Sambona“ (nominiert für den deutschen Jugendliteratur Preis) den schwedischen Peter Pan Preis. Anfang 2010 erscheint im Carlsen-Verlag der Fußball-Roman für Kinder „Mandela und Nelson“.