Eine Fahrkarte nach Ägypten

von Hermann Schulz
Eine Fahrkarte nach Ägypten

von Hermann Schulz
 
Mein Freund, der Arzt und Dichter Dr. Fernando aus Nicaragua, hat ein sehr schönes Buch über seine Kindheit am Fluß Rio San Juan geschrieben. Darin erzählt er, daß der Dichter Mark Twain mit seinen beiden Söhnen Tom Sawyer und Huckleberry Finn mit einem Schiff dort angelegt hätten; er habe selbst mit ihnen gesprochen. Das kam mir seltsam vor, immer schon wollte ich ihn danach fragen. Aber wenn ich ihn besuchte, hatte er so viel zu erzählen, daß ich die Angelegenheit wieder vergaß. Er war eben ein wunderbarer Erzähler, und ich hatte immer große Mühe, seinem nicaraguanisch geprägten Spanisch zu folgen.
Vor zwölf Jahren haben wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Er war schon alt und gebrechlich. Trotzdem erzählte er so lebendig wie immer, vor allem, wenn es um seinen Beruf als Chef der Kinderklinik „La Mascota“ in Managua ging. Er liebte die Kinder, das hörte man aus jedem seiner Worte. Ich bin sicher, daß das auch die Kinder spürten, die als Patienten in seiner Klinik behandelt wurden.
Er war ein guter Arzt mit langer Erfahrung. Ich bewunderte ihn noch aus anderen Gründen: Man hatte mir erzählt, daß er nie danach fragte, wer die Behandlung bezahlen würde. Er lud die Schriftsteller der Stadt ein, mit seinen kleinen Patienten Gedichte zu schreiben. Er pflegte einen Garten mit Heilkräutern, weil er sich nicht allein auf die Medikamente, die aus Europa und den USA nach Nicaragua kamen, verlassen wollte. Er fragte die alten Bäuerinnen und Bauern in den Bergen seines Landes nach ihren Heilrezepten. Er vertraute ihnen mehr als der Werbung der Konzerne.
Ich bedaure, ihn nicht auf seinen Reisen begleitet zu haben. Wenn man in Eile durch fremde Länder reist, verpaßt man so oft Wesentliches. So kam es auch nicht dazu, ihn nach den Söhnen von Mark Twain zu fragen.
Als ich Fernando zum letzten Mal traf, war Weihnachten gerade vorüber. Vielleicht war das der Grund, warum er sich an einen Heiligen Abend erinnerte, der schon einige Jahre zurück lag. Er erzählte wie immer sehr schnell, manchmal ging es zudem arg durcheinander. Was ich damals verstanden habe, gewann vermutlich ein Eigenleben in meiner Erinnerung. Auch wenn nicht alles genau so passiert sein sollte, ist doch eines sicher: Fernando mit seinen großen Herzen hatte es so gemeint. Die Reise nach Ägypten hatte stattgefunden! Und sicher hat er mit Mark Twain und seinen beiden Söhnen auf seine Art eine Unterhaltung geführt. Auch wenn der Amerikaner schon lange tot war, als Fernando geboren wurde.
 
„Wie in jedem Jahr an Heilig Abend“, so begann mein Freund, „machte ich am späten Nachmittag eine letzte Runde durch die vielen Krankenzimmer. In den ersten fünf erzählte ich, so auf meine etwas launige Art, die Geschichte von der Geburt Jesu, von den Hirten und Heiligen drei Königen, nicht wahr? Weil es mir langweilig wurde, immer das Gleiche zu erzählen, faßte ich Geburt, Ochs und Esel, Hirten und Könige in den nächsten fünf Zimmern zusammen und berichtete von König Herodes und seinen schlimmen Befehlen. Und ganz zum Schluß, in den letzten beiden Zimmern auch von der Flucht nach Ägypten, als Josef und Maria ihr Kind in Sicherheit bringen wollten. Denn der König Herodes hatte angeordnet, alle kleinen Kinder zu töten. Vor diesem schrecklichen Schicksal wollten die Eltern ihr Jesus-Kind bewahren.
Wie in jedem Jahr hatte ich eine Kleinigkeit für jedes Kind mitgebracht. Sie kamen meist aus armen Familien, einige hatten keine Eltern oder Verwandten, die sie besuchten. Am Tag zuvor hatte ich auf dem Markt Spielzeug eingekauft, ein paar Süßigkeiten und preiswerte Kleidungsstücke. Kein Kind sollte ohne ein Geschenk bleiben.
Als ich fertig war mit meiner Runde, wollte ich mich auf den Weg machen, um mit meiner Familie und einigen Gästen den Heiligen Abend zu feiern. Ich verabschiedete mich bei der Nachtwache, wünschte den beiden Damen Frohe Weihnacht und ging über den Flur auf den Ausgang zu. Von der Stadt her hörte man die ersten Böller-Schüsse und das Pfeifen von Leuchtraketen. Was in anderen Ländern zu Silvester üblich ist, machen sie bei uns am Heiligen Abend.
Da hörte ich hinter mir ein ganz leises Trippeln. Ich drehte mich um. Im Halbdunkel erkannte ich nicht sofort, wer mir da folgte.
Es war der kleine Filémon. Ein armes Kerlchen von fünf Jahren. Es hatte keine Eltern, keine Verwandten. Niemand wußte, woher Filémon kam und wer ihn ein paar Wochen vorher bei uns abgeliefert hatte. Er war plötzlich da! Filémon war leider ein hoffnungsloser Fall. Wir alle wußten, daß er nicht mehr lange zu leben hatte. Alle meine Bemühungen als Arzt hatten ihm nicht helfen können. Ich hatte auch einige Kolleginnen und Kollegen hinzugezogen, aber seine Krankheit war schon weit fortgeschritten. Wir warteten auf sein Sterben.
Da stand das kleine magere Kerlchen im Nachthemd und barfuß vor mir. In der Hand hielt es ein T-Shirt, das ich ihm eine Viertelstunde vorher als Weihnachtsgeschenk gegeben hatte.
Er hielt mir das Stück entgegen.
‚Was willst du denn noch, mein Kleiner‘, fragte ich ihn.
‚Doktor, du sollst mein Geschenk umtauschen!‘, stammelte er leise.
‚Gefällt es dir nicht? Ich habe es extra für dich ausgesucht. Es paßt doch, oder?‘
‚Ja, es paßt und es ist schön. Aber ich möchte es umtauschen.‘
Ratlos guckte ich ihn an.
‚Welchen Wunsch hast du denn, Filémon?‘
‚Kannst du mir dafür eine Bus-Fahrkarte nach Ägypten besorgen?‘
Im ersten Augenblick dachte ich, der Kleine sei verwirrt. Ich brauchte sicher eine Minute, bis ich mich erinnerte, daß ich in seinem Krankensaal gerade von der Flucht nach Ägypten erzählt hatte.
‚Was willst du denn in Ägypten?‘, fragte ich.
‚Da in Ägypten retten sie Kinder‘, flüsterte Filémon.
Dieser Satz brachte mich völlig aus der Fassung. Sollte ich ihm die Wahrheit sagen? Welche Wahrheit? Daß kein Bus nach Ägypten fährt? Daß das nur eine alte Geschichte aus früheren Zeiten ist? Ich mußte mich beherrschen, meine Tränen unterdrücken.
Hier stand ein Kind vor mir, das seinen nahen Tod ahnte. Und in dessen Seele ich durch die Weihnachtsgeschichte eine große Hoffnung geweckt hatte.
In meinem Beruf hat es immer schwierige Augenblicke gegeben, schmerzhafte Wahrheiten, bittere Nachrichten für die kleinen Patienten und ihre Angehörigen. Ich wußte auch aus Erfahrung, daß Kinder oft vom nahen eigenen Tod wissen. Aber diese Minute, vor mir das armselige Kind Filémon, gehört zu den schwersten, an die ich mich erinnere.
Was sollte ich tun?
‚Komm mit!‘, forderte ich ihn auf.
Ich nahm ihn an die Hand. Wir gingen in das Zimmer der Nachtwache und ich bat eine der Schwestern, meine Frau anzurufen, ich käme eine Stunde später. Dann suchten wir in der Kleiderkammer ein paar Sandalen für Filémon, eine ordentliche Hose und eine Jacke.
‚Das T-Shirt kannst du trotzdem behalten‘, sagte ich ihm und er zog es sich sogleich über den Kopf.
‚Wir machen die Reise gemeinsam! Einverstanden?‘
Er nickte.
Als wir in meinem Auto saßen, brauchte ich ein paar Minuten der Besinnung. Ich wußte nicht, was ich da tat. Was ich tun sollte.
Dann startete ich und wir fuhren langsam los, erst durch fast menschenleere Straßen. Inzwischen war es dunkel geworden. Überall in den Fenstern sahen wir das Licht der Weihnachtsbäume, manchmal klang Musik herüber. Je näher wir der Innenstadt kamen, umso häufiger sahen wir Leuchtkerzen und Leuchtraketen aufsteigen. Hier waren die Straßen belebt. Immer wieder winkten Weihnachtsmänner, die unterwegs waren, uns zu, und als Clowns verkleidete Kinder. Familien auf dem Weg zu Freunden, die mich erkannten. Es war ein buntes Leben auf der Straße.
Filémons Augen wanderten von den Gestalten auf der Straße immer wieder begeistert in den bunten Himmel.
‚Ist es noch weit?‘, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. Ich nahm die Straße, die auf die höchste Erhebung über der Stadt führt. Dorthin, wo jetzt ein Denkmal eines Freiheitshelden steht und wo früher der Diktator seinen Bunker hatte.
Wir waren ganz oben angekommen. Ich löschte die Scheinwerfer und stellte den Motor ab.
‚Komm, wir steigen aus!‘
Ich nahm Filémon an die Hand. Wir suchten uns einen Stein, auf dem wir eng beieinander sitzen konnten. Hier, wo sonst die Liebespaare den Ausblick genossen, war an diesem Abend kein Mensch. Vor uns das Lichtermeer der Stadt.
So schön, wie man sie jetzt von oben sehen konnte, ist sie ja in Wirklichkeit nicht! Die Lichter in der Dunkelheit verzauberten alles.
‚Das T-Shirt ist schön‘, flüsterte der Kleine und legte seine kleine Hand auf meine Knie. ‚Aber das da unten und am Himmel ist das Schönste, das ich je gesehen habe.‘
Immer wieder stiegen Leuchkerzen auf, verteilten ihr Licht in die Breite – und verglühten.
‚Ist das Ägypten?‘, fragte Filémon.
‚Das ist Ägypten und die ganze Welt!‘, sagte ich.
‚Wissen die Leute, daß ich hier bin?‘, fragte er.
‚Sie wissen es alle!‘, beruhigte ich ihn. ‚Nur einige nicht, die nur an sich selbst denken. Aber die können uns egal sein! Nicht wahr?‘
‚Ja, die sind uns egal‘, flüsterte Filémon. Er lächelte, als er mich einmal kurz ansah. Einen solchen Glanz in seinen Augen hatte ich noch nie bemerkt. Vielleicht gab es ihn zum ersten und einzigem Mal. Dann wanderte sein Blick wieder zu den Lichtern der Stadt. Und weit hinüber zu unserem Vulkan Momotombo. Die Umrisse des Kegels konnte man im Mondschein gut sehen.
‚Was ist das? Dieser Berg?‘
‚In Ägypten nennt man sie Pyramiden. Da werden Könige begraben!‘
‚Der König hat ein Feuer angezündet.‘ Filémon zeigte auf den weißen Dampf, der sanft aus der Spitze des Vulkans in den Nachthimmel stieg. ‚Vielleicht, weil ich gekommen bin.‘
‚So wird es sein‘, sagte ich.
Vermutlich waren wir die einzigen, die in dieser Stunde auf den Momotombo geachtet haben.
Und niemand außer uns beiden wußte, daß diese heruntergekommene Stadt in diesen Minuten in der Seele eines Kindes Bethlehem, Jerusalem, Ägypten und die Welt geworden war. Aber ich wußte es, und erzählte davon leise dem kleinen Filémon. In Worten, die er verstehen konnte. So als erlebten wir gerade eine weltumspannende Weihnachtsgeschichte.
Er hörte still zu. Ich vermute, daß er nicht alles verstand. Das war auch nicht wichtig. Er war versunken in der Betrachtung der Lichter und des Königsgrabes. Manchmal hob er die Hand, um hier oder dorthin zu zeigen.
Dann schwieg ich auch.
Nach einer Stunde auf dem Hügel bemerkte ich, daß Filémon eingeschlafen war. Sein Köpfchen lag auf meinem Knie. Ich nahm ihn auf den Arm und trug ihn zum Auto. Ich sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Es war viel Zeit vergangen, Familie und Gäste warteten zu Hause. Filémon würde ich auch am nächsten Tag ins ‚La Mascota‘ zurückbringen können. Ich trug ihn ins Haus. Er wurde von alleine wach, als ich ihn neben meinen Platz am Tisch auf einen Stuhl setzte. Die Kerzen am Tannenbaum brannten, der Raum war voller Lichter. Der kleine Filémon war plötzlich der stumme, geheimnisvolle Mittelpunkt der ganzen Festtagsgesellschaft.
‚Wo kommt ihr so spät noch her?‘, fragte meine Frau.
‚Ägypten! Sie haben für mich ein Feuer angezündet. Wir sind noch auf der Reise‘, sagte Filémon, noch bevor ich ein Wort sagen konnte.
Du wirst es mir sicher glauben: Keiner meiner Familie, keiner der Gäste, lachte oder stellte eine dumme Frage. So als hätten sie etwas von dem Zauber gespürt, der uns immer noch umgab.“
 
 


©
2011 Hermann Schulz - Erstveröffentlichung in den Musenblättern