Allerleirauh

(sehr) frei nach den BrĂ¼dern Grimm

von Ruth Velser

Scherenschnitt von Johanna Beckmann
Allerleirauh
(nach den Brüdern Grimm)
 
Die längst erkaltete Beziehung zu seiner Frau veranlaßte ihn, sich seiner bisher eher unbeachteten Tochter zuzuwenden. Er stellte fest, daß sie recht hübsch geworden war und genoß es, mit ihr shoppen zu gehen, durchaus erfreut, daß sie Markenbewußtsein hatte. Auch die Blicke der Vorübergehenden amüsierten ihn. So ließ er sich verleiten, ihr unter anderem drei aufwendige Kleider zu kaufen, eine goldenes, eine silbernes und ein in allen Farben schillerndes. Außerdem eine Felljacke im 68er-Stil. Ihr goldblondes Haar erinnerte ihn an seine Frau in früheren Jahren.
Die Tochter wählte schließlich einen weit entfernten Studienort. Sie erbat sich drei Dinge vom Erbe ihrer Großmutter: einen goldenen Ring mit Aquamarin, einen goldenen Fingerhut und eine goldene Schreibfeder. Die drei Kleider packte sie in ihren Trolley, die Jacke zog sie über.
Angekommen in der fremden Stadt, mietete sie sich in einer Pension ein und erkundete am Abend das Nachtleben. In der Kneipe „Zum Hohlen Baum“ traf sie auf einige Studenten der Forstwirtschaft, die ihr von einer Arbeit als Küchenhilfe im einem Hotel am Ort erzählten, Unterkunft inbegriffen. Dort stellte sie sich am nächsten Tag vor und bekam den Job. Ihr Haar flocht sie unter der Haube zum Zopf. Verhetzt und übermüdet wurde sie trotz ihrer augenfälligen Schönheit übersehen.
Als im Hotel eine Tanzveranstaltung stattfand, fragte sie den Koch, ob sie nicht durch die angelehnte Tür zusehen dürfe. Der Koch gab ihr eine halbe Stunde. Sie lief auf ihr Zimmer, wusch sich und zog das goldene Kleid an. Im Saal kam ihr der Gastgeber entgegen, reichte ihr die Hand und tanzte mit ihr. Nach kurzer Zeit verschwand sie durch eine Seitentür.
Niemand konnte ihm Auskunft geben, wer sie sei, obwohl es doch ein internes Firmenfest war. Als sie wieder in die Küche kam, sagte der Koch: „Mach die Suppe und trag sie dem Gastgeber selbst auf. Ich geh dann auch mal gucken.“ Sie kochte die Suppe und legte den goldenen Ring in den Suppenteller.
Der Juniorchef ließ den Koch kommen, wer denn die Suppe gekocht habe. Nach einigem Hin und Her schickte er die Studentin in den Saal. Auf die Frage, wer sie sei, sagte sie: „eine Küchenhilfe“. Wie der Ring in die Suppe komme, wisse sie nicht. Dies wiederholte sich noch zweimal.
Auf dem dritten Fest steckte ihr der junge Mann einen Ring an, ohne daß sie es merkte und versuchte, sie festzuhalten. Doch es gelang ihr, sich loszureißen und fortzulaufen. Sie hatte bis zur Arbeit in der Küche jedoch nicht die Zeit, das schillernde Kleid auszuziehen, raffte es nur hoch und zog die schon etwas mitgenommene Jacke drüber. 
Der junge Mann fand die goldene Feder auf dem Boden des Suppentellers und hielt die Hand der Küchenhilfe fest, die ihm die Suppe gebracht hatte. Als sie sich losmachen wollte, klaffte die Jacke auf und die Haube fiel ihr vom Kopf. Sie hatte nicht die Zeit gehabt, den Zopf zu flechten und so stand sie ihrer Verkleidung ledig da.
Der junge Mann machte ihr Komplimente und überredete sie zu einem Date. Es war nicht lange hin, bis er sagte: „Du bist meine liebe Braut und wir scheiden nimmermehr voneinander.“ Darauf wurde Hochzeit gefeiert und sie lebten vergnügt bis an ihren Tod.
Die Frau bekam sieben Kinder und wurde Familienministerin.   
 
 
 
© Ruth Velser