Der Kaiser und ich

von Karl Otto Mühl

Foto © Jürgen Kasten
Der Kaiser und ich
 

Heute Morgen erwachte ich etwas später als sonst – ich hatte mir das schon beim Einschlafen genehmigt, und ich brauchte einige Zeit, um mich zu orientieren. Mir schien, daß ich an einem anderen Ort der Stadt war, und da ergab es sich von selbst, daß ich erst herausfinden mußte, wo das Badezimmer war.
Genug. Die Situation wurde geordnet; es war tröstlich, daß unser Badezimmer noch am selben Ort war und das Ergometer im Nebenraum.
 
Ich aber hatte das Problem längst hinter mir gelassen und die Situation auf die Bühne übertragen:
Nacht um mich, unheimliche Stimmung, das kratzende Geräusch der Schaufeln, die Totengräber in der Anfangsszene von Hamlet.
Auch die verlasse ich und nun wache selbst auf meinem Grab auf – aber nicht allein. Neben mir erwacht einer, und der nicht weniger als ein Kaiser, selbstverständlich ein gestorbener. Mit diesem Kaiser, der meinem Gefühl nach einmal in Italien gelebt haben muß, verständige ich mich rasch, daß die da oben absolut dicht halten. Sie hatten uns ohne jede Erinnerung an das Himmelreich in unsere Gräber plumpsen lassen. Wahrscheinlich hatten wir da oben Lärm gemacht oder zu laut mit unserer schönen Vergangenheit geprahlt.
Was sonst noch geschah? Der Kaiser fragte mich nach einer Nagelschere, die Nägel seien während der langen Zeit unheimlich gewachsen. Seine Frage erwärmte mein Herz mit einem Gefühl von Solidarität. Ich wußte es schon immer: Kaiser sind auch Menschen.
Ich will hier keine Geschichte erzählen, sonst müßte ich alles berichten, was während dieses Ausflugs geschah und wie ich es erlebte. Ich glaube, ich fand nichts, was mich zum Bleiben bewegt hätte. Einmal blickte ich lange in das Gesicht einer wunderschönen Frau voller Liebreiz, aber ich sagte ihr gleich, daß ich sie lieber drüben wiedertreffen würde, weil, hier würde man immer wieder auseinandergerissen.
Was sonst noch geschah? Ich denke, der Kaiser und ich haben um Rückkehr gebeten. Ob sich das hier alles genau so abgespielt hat, will mir niemand bestätigen. Wie ich schon sagte, da oben hält man absolut dicht.
Es heißt zwar, was niemand sähe, gäbe es nicht. Aber ich weiß es besser.
 
 
 
© Karl Otto Mühl 2012
Erstveröffentlichung in den Musenblättern
Redaktion: Frank Becker