Vom Hunger und vom Kochen

von Karl Otto Mühl
Vom Hunger und vom Kochen
 
…habe ich zu einer bestimmten Zeit ununterbrochen geträumt, vielleicht mehr als mancher Koch. Wenn, so dachte ich, wenn alle Regierungen in der Welt, und besonders die englische Regierung, deren Kriegsgefangener ich war, wenn die dafür sorgen würden, daß es wenigstens von einem einzigen Nahrungsmittel, meinetwegen Kartoffeln, übergenug gäbe, soviel, daß jeder, der es wünschte, sich daran satt essen könnte, dann wäre schon viel gewonnen.
 
Wir lagen zu Tausenden in Zelten in Ägypten, wir Gefangenen der Schlacht um Nordafrika unter Montgomery und Rommel.
Bei vielen heimliche Beruhigung (von der niemand sprach), daß wir dem Krieg entronnen waren.
Am Anfang gab es wenig zu essen, in den ersten Tagen nur ein paar Kekse. Einige Male fiel ich vor Schwäche in den  weichen Sand, aber nach einiger Zeit lief der Nachschub – Hunger hatten wir trotzdem  noch lange.
 
Abends ein Spaziergang am Lagerzaun entlang mit Blick auf den Sinai und die langsam heraufziehenden Sterne – und dann lagen wir auf unseren Wolldecken auf Sand in den Zelten und murmelten, murmelten vom Essen und vom Kochen. Was wir gegessen hatten, damals, und wer das gekocht hatte, und was besonders gut geschmeckt hatte, und wovon es unheimlich reichlich gegeben hatte, und was wir jetzt am liebsten essen würden. Jeden Abend redeten wir nur davon. Nach dem Murmeln kam das Einschlafen.
Am  Morgen ging es dann richtig los. In kurzen Abständen wurden Kundschafter an die Umfriedung der Lagerküche gesandt. Sie mußten feststellen, was in den riesigen Kesseln kochte und dampfte, wieviel es war, ob es sehr flüssig oder mehr sämig war, ob Fleischfasern darin schwammen, ob es Aussagen vom Küchenpersonal gab.
Die Kundschafter kamen zurück und berichteten. Sie berichteten manchmal von Zeltreihen, in denen die ersten Kessel schon angekommen waren und wo es einen Nachschlag gegeben hatte. Einen Nachschlag! Zum Beispiel von der Nudelsuppe. Was für ein Glück! Was für ein Tag.
Am Abend wurde wieder gemurmelt. Was man kochen würde, was man sich zuhause wünschen würde.
 
Ein Jahr später waren wir in einem Kriegsgefangenencamp in Texas. Wir wurden korrekt nach der Genfer Konvention behandelt und bekamen dasselbe Essen wie die amerikanischen Soldaten. Wir bekamen mehr als wir essen konnten. Die Essenreste, das nicht aufgebrauchte Fleisch, Butter, Würste, Speck wurden verbrannt – nicht gebraucht, nicht aufgegessen – sie wurden heimlich beseitigt, damit die Amerikaner den täglichen Überfluß nicht kürzen würden.
So ändern sich die Zeiten. Abends murmelte niemand mehr vom Essen. Es wurde anders gemurmelt: „Erzähl, wie du es zum ersten Mal gemacht hast.“
 
Dieser Hunger war nicht geringer. Viele erzählten es den atemlosen Zuhörern. Aber es gab auch genügend andere, die nichts vorzuweisen hatten; ein rothaariger, kleiner, eifriger Theologe, ein braver Bauernsohn, ein sportlich ehrgeiziger Neunzehnjähriger aus Karlsruhe; ich weiß es nicht mehr, wer was erzählt hat.
Das Kochen und der Hunger nach Gekochtem sind unwichtig geworden. In der Erinnerung bleiben der Sinai hinter dem Stacheldraht, aber auch die ersten Anfänge von Besinnung und Nachdenklichkeit, als die an Offenheit gewöhnten Amerikaner den deutschen Wehrmachtsbericht  neben den ihren ans schwarze Brett hängten. Umso schneller durchschauten wir die Verlogenheit der deutschen Berichte.
 
Die Kameraden von damals sind alt geworden. Sie essen vorsichtig und trinken Mineralwasser, wenn ich mit ihnen zusammentreffe. Einer hat seine Frau verlassen. Es sei ihm zuviel Frau gewesen, sagt er vieldeutig.
Der Hunger vergeht und das Sattsein vergeht. Aber in der Erinnerung taucht ein Gefühl von Freude auf, der Blick auf den Sinai in der Abendsonne, als sei es ein Berg der Hoffnung, Hoffnung auf ewig gestillten Hunger.
 
 
 
 
© 2013 Karl Otto Mühl
Erstveröffentlichung in den Musenblättern