Der eine springt, der andere nicht

Søren Kierkegaard und Camus

von Anne-Kathrin Reif

Der eine springt, der andere nicht -
Søren Kierkegaard und Camus
 
Publiziert am 6. Mai 2013 von Anne-Kathrin Reif
 
Asche auf mein Haupt: Daß ich Geburtstage vergesse oder an Geburtstage denke, aber nicht dazu komme, angemessen und vor allem rechtzeitig zu gratulieren, passiert mir leider ziemlich häufig im Leben. In diesem Falle trifft es wenigstens keinen meiner zum Glück quicklebendigen Freunde oder Verwandten, die mir das Versäumnis entsprechend nachtragen können, sondern einen, dessen 200. Geburtstag gestern zu feiern gewesen wäre: Søren Kierkegaard (1813 – 1855). Die Gelegenheit zu einer hübschen „Camus und Kierkegaard”-Betrachtung ist damit auch vorbei, perdu, zu spät, nein, das wärme ich heute nicht mehr auf. Zumal das Thema bei genauerer Betrachtung den Blog-Rahmen sprengt, denn Kierkegaard, der Urvater aller existenziellen Denker (von Ur-Ur-Vater Blaise Pascal jetzt mal abgesehen) ist ganz ohne Zweifel eine der wichtigsten Bezugsgrößen im Werk von Camus, auch wenn (oder weil) er sich dann doch so deutlich von ihm abgrenzt. Spannend ist es allemal, wie die beiden von ein und demselben Ausgangspunkt ausgehend so verschiedene Konsequenzen ziehen. Man denke nur an die Kategorie des Sprunges (von der Anerkennung des Nicht-Wissen-Könnens in den Glauben): bei Kierkegaard der Sprung von einem Stadium in ein höher angesiedeltes, nämlich vom ethischen ins religiöse Stadium der Existenz – bei Camus „philosophischer Selbstmord” (1). Oder an die Figur des Don Juan: bei Kierkegaard Prototyp der ästhetischen (vor-ethischen) Existenz, bei Camus eine Verkörperung des absurden Helden.
 
Schaut man, was die Dänen zum 200. Geburtstag ihres größten Denkers alles auf die Beine stellen, kann man nur staunen. Zugestanden, daß Frankreich ein paar bedeutende Denker mehr aufzuweisen hat als Dänemark und der einzelne deshalb vielleicht nicht gar so sehr ins Gewicht fällt – selbst dann verwundert es noch, wie bescheiden im Vergleich dazu bislang die Würdigungen Camus’ im Jahr seines 100. Geburtstages in Frankreich ausfallen. Unter http://www.kierkegaard2013.dk/en findet man eine solche Fülle von Veranstaltungen, daß man sich die Augen reibt. Allein die Highlights in May listen für jeden Tag (zum Teil mehrere) Termine auf. Da gibt es Ausstellungen, Konzerte, unzählige Vorträge, Gesprächsrunden und eine Philosophie-Olympiade in Kopenhagen; es gibt ein Kierkegaard-Festival in Silkeborg, eine Woche zum Thema „Leidenschaft” in Odense und in Jutland „Kierkegaard in Jutland”. Das offizielle Programm, das am 5. Mai begonnen hat, läuft bis zum 11. November.
 
Eine offizielle Webseite zum Kierkegaard-Geburtstag präsentiert einführend sein Leben und Werk in Lebensstationen und Videos und stellt seine aktuelle Präsenz heraus – bis hin zu den Filmen von Woody Allen und der Tatsache, daß Hillary und Bill Clinton ihren Hund nach Kierkegaard Søren genannt haben. Man erfährt auch, daß auch in Deutschland der Geburtstag von Kierkegaard begangen wird:
Im Haus am Waldsee, Berlin, läuft vom 21. Juni bis 22. September eine Ausstellung mit dem Kierkegaard-Titel „Entweder – Oder”: eine internationale Gruppenausstellung, welche die frühen existenzialistischen Ideen des dänischen Philosophen und Theologen im Werk zeitgenössischer Künstler reflektiert. Vor allem im Blick dabei steht sein einflussreiches Werk Entweder – Oder, an dem er im Alter von 30 Jahren zwischen 1841 und 1843 (auch) in Berlin schrieb.
Und am 28. und 29. November wird beim „Nordwind Festival” in Berlin das Theaterstück „Furcht und Zittern” von Roland Schimmelpfennig nach Motiven von Kierkegaard aufgeführt. Es geht um eine hochdramatische Situation: Ein Vater muß seinen Sohn aus vermeintlich „höheren” Beweggründen töten – wie Abraham seinen Sohn Isaak auf Geheiß Gottes, dem zentralen Motiv in Kierkegaards Furcht und Zittern.
 
Ein deutsch-dänischer Reigen von Vorträgen, Konzerten, Ausstellungen, Lesungen und Workshops soll auch im deutsch-dänischen Grenzgebiet an Kierkegaard erinnern. Am vergangenen Dienstag wurde das Kierkegaard-Jahr mit einer Ausstellung in der Phänomenta Flensburg offiziell begonnen (zum Programm). Noch mehr Veranstaltungen in Deutschland zu Kierkegaard listet das Goethe-Institut auf.
Und weil ich schon einmal beim Sammeln bin, hier noch eine kleine Presseschau zum Weiterlesen mit Artikeln zum 200. Geburtstag von Søren Kierkegaard:
Reflexion von Anfang bis Ende, Neue Zürcher Zeitung ; Kierkegaards Aktualität: Er war kein Mann fürs Wort am Sonntag, FAZ; Ich bin ja so allein, Frankfurter Rundschau; Die Angst und das Nichts, Der Tagesspiegel; Der Mensch braucht Angst, sonst lernt er nichts, Die Welt; Der Spion Gottes: Sören Kierkegaard, bei evangelisch.deWDR-Zeitzeichen vom 5. Mai 2013 zum 200. Geburtstag von Søren Kierkegaard; Der Kopenhagener Sokrates. Deutschland-Radio Kultur – eine Besprechung zur neuen Kierkegaard-Biografie von Otto A. Böhmer: Reif für die Ewigkeit. Sören Kierkegaard und die Kunst der Selbstfindung. Diederichs Verlag, München 2013, 173 Seiten, 17,99 Euro.
 
(1) Eine wissenschaftliche Untersuchung zum Thema gibt es von Anne-Marie Pieper, Das Absurde und der Sprung. Camus contra Kierkegaard, in: Sabine Dramm u.a. (Hrsg.), Albert Camus und die Christen: eine Provokation, Frankfurt, Haag und Herrchen, 2002, S. 62-76.
 

 © 2013 Anne-Kathrin Reif - Übernahme aus „365 Tage Camus" mit freundlicher Erlaubnis
Redaktion: Frank Becker