Holland

von Birgit Bayer
Holland
 
Verblüfft höre ich den neuen holländischen König singen: „Wilhelm von Nassau bin ich, von deutschem Blut…“. Es ist der Tag seiner Inthronisation.
Von deutschem Blut?
Das wußte ich nicht.
Dabei fließt Holland durch mein Blut, wie angeblich Willem Alexander van Oranje deutsches Blut durch die Adern.
 
In Emmerich bin ich groß geworden, 5 km von der holländischen Grenze. ´s Heerenberg hieß das Ziel unserer Wünsche. Wir fuhren met de fiets dorthin. Am Markt gab es schon damals, in den 1950er Jahren, Pommes Frites. Und später Bitterballetjes in der Rotonde in Arnhem. Natürlich mit Chocomel. Aber das war schon Anfang der 60er. Nach Arnhem fuhren wir mit dem Auto wie noch viel später nach Amsterdam. Meine Mutter kaufte in Arnhem in der „Oostersche Kunst“ wunderbare Stoffe aus Indonesien für die Kleider, die sie sich selbst nähte. Sehr preiswert. So etwas gab es in Deutschland nicht, sagte meine Mutter.
Meine Mutter war nicht meine Mutter, aber das wußte ich damals noch nicht.
 
In den Schulferien fuhren wir nach Katwijk an die Nordsee. Wir wohnten in einem richtig holländischen Reihenhaus ohne Gardinen mit dem kleinen halbrunden Erker im Erdgeschoß, durch das man von draußen ins Wohnzimmer gucken konnte.
Die holländischen Eigentümer des Hauses wohnten mit ihren drei Kindern in dem kleinen Gartenhaus, so lange wir ihr Haus gemietet hatten. Einmal habe ich Trixje, ihre älteste Tochter gefragt, wie sie dort alle fünf hereinpaßten. Sie hat mich nur groß angeguckt.
 
Wir, die deutschen Mieter, waren auch mit vielen Kindern da. Oben im Haus gab es zwei große und ein kleines Schlafzimmer. In einem der großen schliefen die Geschwister Veronika, meine Cousine, und Peter mein Cousin. Außerdem Maike, die Tochter einer Freundin meiner Mutter. Maike war schon alt. 16 oder 17 Jahre oder so. Peter war so alt wie ich, Veronika war ein Baby mit dem man nicht viel anfangen konnte. Sie war fünf Jahre, glaube ich.
Wenn morgens Peters Vater zu uns in Schlafzimmer kam, strahlte er seine Tochter Veronika an: „Mein Engelchen ist schon wach, wie hat mein Engelchen denn geschlafen?“
Wir alle schauten zu, wie Veronika in die Arme genommen wurde. Dann sagte ihr Vater zu Peter: „Glotz nicht so, mach daß du ins Bad kommst und putz dir die Zähne.“
Darüber habe ich mich gewundert.
Jahrzehnte später habe ich erfahren, daß er nicht Peters Vater war.
 
Und da gab es noch Annettchen, ebenfalls eine Tochter von Mamis Freundin. Die hatte einen eigenen Kopf, obwohl sie noch klein war.
Eines Morgens, kurz bevor wir aufbrechen wollten zum Strand, war sie verschwunden. Helle Aufregung. Meine Mutter war außer sich, schließlich hatte sie die Verantwortung für all die Kinder, die sie immer mitnahm an die See. Die Väter waren nur zum Wochenende in Katwijk. Meine Mutter war sehr kinderlieb, sagte sie immer.
 
Es stellte sich dann heraus, daß Annettchen allein mit ihrer Schaufel und dem Eimerchen an den Strand gegangen war. Sie war die beiden Straßen bis zum Binnenhafen gelaufen, war dort auf die kleine Handfähre gestiegen, die ein Mann am Stahlseil über das Hafenbecken zog und von dort zum Strand. Dort hatte sie auch unser gemietetes Strandhuisje gefunden, das quadratische Zelt aus gestreiften Stoffbahnen, das sich nach vorne wie ein Tor öffnen ließ. An dieses Strandhuisje wurde Annettchen dann zur Strafe angebunden. Meine Mutter band ihr eine Kordel um den Fuß und zurrte das andere Ende an den Holzstab fest, das im Sand stak und das große offene Tor unsres Huisje bildete.
Wenn die Väter zum Wochenende kamen, saßen alle Erwachsenen in der selbst gebauten Sandburg und aßen Matjeshering. Dazu legten sie den Kopf weit in den Nacken und ließen sich aus dem hochgereckten Arm den Hering langsam in den weit geöffneten Mund wandern. Das sah lustig aus, fand ich.
 
Ich mochte keinen Hering. Ich aß lieber Fritten. Oder Käse. Alten Gouda, „belegen“ natürlich.
Am besten schmeckte mir der alte Gouda, der so bröckelig war, daß man ihn nicht schneiden konnte. Deshalb kam er oft als Retoure aus den Feinkostgeschäften in Düsseldorf oder Köln wieder zurück in den Großhandel meines Vaters nach Emmerich. Aber der Großhandel lief nicht mehr so gut wie früher. Vor dem Krieg, sagte mein Vater immer, sei sein Geschäft – das er von seinem Vater übernommen hatte – eines von nur fünf Großhandeln in Deutschland gewesen, die Käse aus Holland nach Deutschland importieren durften. Heutzutage, sagte er, darf ja jeder aus Holland importieren.
 
Mein Vater war auch nicht mein Vater, aber das wußte ich nicht.
Sein Geschäft lag auf halbem Weg zwischen meiner Grundschule und unsrem Haus. Es war eine ziemlich weite Strecke, und wenn ich im Winter aus Furcht vor den Jungs und ihrem „Waschen“ mit Schnee bis zum Geschäft rannte, war ich völlig außer Atem und keuchte vor Erschöpfung. Dann stellte ich mich neben meinen Vater in seinem schäbigen blauen Kittel, sah zu, wie er im Lager an seinem Stehpult schrieb und stieg mit ihm in den Keller. Dort lagen die riesigen runden Käselaibe vom Boden bis zur Decke auf hohen Regalen. Wir waren ganz allein dort, es war kühl und es roch wunderbar.
 
Leider hat er mir nie Emmeriks Platt beigebracht, das er sehr gut sprach – es klang für mich genau wie holländisch – war es wohl auch in vielen Worten, Satzbau und Grammatik. In Holland konnte ich nie mehr sagen als „ik kann et well verstan, maar ik prat et niet.“
Später im Emmericher Gymnasium gab es holländische Sprachkurse, aber das wußte ich nicht. Das finde ich schade.
 
Ich war schon 22 Jahre, als ich erfuhr, daß meine Eltern nicht meine Eltern waren. Mein biologischer Vater hat mich in meiner Kindheit fast täglich besucht, ohne daß ich von seiner wirklichen Identität gewußt habe.
Er sprach sehr gut holländisch und trug einen holländischen Namen. Meine Mutter kam aus einem anderen Land. Es war sehr schwierig, meine biologische Herkunft zu ermitteln.
 
Es ist einfacher, herauszukriegen wieso Willem Alexander van Oranje deutsches Blut hat.
Das werde ich jetzt im Netz nachlesen.
 
 

© 2013 Birgit Bayer