Daumier in London

Bis 26.1.2014 in der Royal Academy of Arts

von Joachim Klinger

Daumier in London
 
Eine Ausstellung der Royal Academy of Arts
(26.10. 2013 – 26. 01. 2014)
 
 
Aber da gehört er doch hin! Nach England! Mag man sagen. In das Land der Karikatur, das Land, in dem William Hogarth (1697 – 1764), James Gillray (1757 – 1815) und George Cruikshank (1792 – 1878) gewirkt haben. Das Land der zeichnerischen Gesellschaftskritik, der satirischen Beobachtung von Menschen und Mächten. Ein Land, in dem die Karikatur auch heute in hohem Ansehen steht. Immerhin ist Prinz Philipp Schirmherr des Cartoon Art Museums in London. Und welche internationale Leuchtkraft haben / hatten englische Karikaturisten unserer Gegenwart! Ich nenne nur David Low (1891 – 1963), der das Dritte Reich mit seinem scharfäugigen Spott entlarvte, und Ronald Searle (1920 – 2011), der in der „Anatomie eines Adlers“ (einem prächtigen Bildband!) die Bundesrepublik Deutschland so portraitierte, daß man als Deutscher sein Land und seine Mitbürger erst so recht kennenlernte.
 
Aber halt! Man darf Honoré Daumier nicht vorschnell als Karikaturisten abstempeln und „einkasteln“! Natürlich ist er ein großartiger Karikaturist, aber er ist darüber hinaus und vor allem ein genialer, facettenreicher Künstler, der zu den bedeutesten Gestalten des 19. Jahrhunderts zählt und dessen Popularität viele seiner berühmten Zeitgenossen überstrahlt.
Eben das will die Königliche Akademie: den Künstler Honoré Daumier mit der Fülle seines Gesamtwerks vorstellen und ihn als Maler, Bildhauer, Aquarellisten und Grafiker zeigen. Sichtbar werden sollen seine Einstellung zum gesellschaftlichen und politischen Leben im Frankreich des 19. Jahrhunderts, sein Umgang mit Künstlerkollegen wie Millet und Corot, Daubigny und Nadar, sein Rückgriff auf die Großen des Louvre, sein Einfluß auf die schöpferischen Kräfte nachfolgender Generationen.
Ein anspruchsvolles Unternehmen diese Londoner Ausstellung! Und dies erstmalig nach 50 Jahren (Katalog S. 6 u. 9)! Mir liegt der gewichtige Katalog vor, und ich kann nur meinen Respekt und meine Anerkennung zum Ausdruck bringen. Er ist des Meisters würdig. Man wird ihn immer freudig und dankbar zur Hand nehmen, wenn es um Honoré Daumier geht.
 
Die Bücher über Daumier sind Legion, die Zahl der Ausstellungen ist unüberschaubar, Verehrern und Sammlern begegnet man auf Schritt und Tritt. Ich erinnere mich beispielsweise, daß1982 im Dortmunder Museum am Ostwall 400 Blätter von Daumier aus der Sammlung Horn präsentiert wurden. Zu den von mir liebevoll gehüteten Büchern gehört das verdienstvolle Werk von Tomas Vlcek (Gondrom Verlag Bayreuth 1981), das mir die Augen für den Maler Honoré Daumier geöffnet hat. Das darin abgebildete Ölgemälde (160 x 127) „Ecce Homo“ hat seinen Weg aus dem Folkwang Museum in Essen nach London gefunden und ist auch im Katalog enthalten (S.79).
 
Auffallend ist bei vielen Gemälden Daumiers ihre dunkle Tönung und das Fehlen vielfältiger Farbigkeit. So auch das Gemälde „Ecce

Daumier, Ecce homo - © Folkwang Museum
Homo“, das in erdigen Farben angelegt ist und das dunkle Profil des Jesus von Nazareth scharf von dem fahlen Hintergrund abhebt. Bemerkenswert ist bei manchen Ölgemälden der Einsatz von Lichteffekten, die Einzelheiten aufleuchten lassen. Unverkennbar hat sich Daumier bei der Gestaltung oft von großen Vorbildern beeinflussen lassen, z.B. Peter Paul Rubens im Fall des Bildes „Von Satyren verfolgte Frauen / Nymphen“ (Katalog S.19). Aber auch Zeitgenossen wie Eugène Delacroix (1798 – 1863) haben auf ihn eingewirkt, gewiß auch Freunde wie Jean-François Millet (1814 – 1875) und Gustave Courbet (1819 – 1877).
Die Malweise Daumiers erscheint uns häufig flüchtig, fließend, skizzenhaft. Das läßt übrigens an Wilhelm Busch (1832 – 1908) denken, der als Maler ebenfalls einen scheinbar flüchtigen Stil entwickelte, was bei Zeitgenossen den Eindruck der Unfertigkeit der Werke hervorrief. In beiden Fällen beweist die „moderne Technik“ hohe Könnerschaft.
 
Ein Reichtum des Katalogs besteht darin, eine große Zahl zeichnerischer Entwürfe, Skizzen und Vorstudien zu größeren Arbeiten zu versammeln und damit einen Einblick in künstlerische Entstehungsprozesse zu vermitteln. In vielen Blättern, die übrigens nicht „nach der Natur“ gefertigt wurden – Daumier schöpfte aus einer erstaunlichen Beobachtungsgabe und einem adäquaten Erinnerungsvermögen – erkennen wir, wie kreisende, krause, krakelige Linien den Gestalten eine lebendige Körperlichkeit verleihen und zugleich Bewegungsvorgänge sichtbar werden lassen.
Ein Musterbeispiel ist die Kohlezeichnung „La destruction d’une cité ou Le Riot“ (Katalog S. 75), die in einer Zeit entstand, als Baron Haussmann im staatlichen Auftrag ganze Häuserzeilen und Stadtviertel abreißen ließ, um der Modernisierung von Paris Raum zu geben und insbesondere große Boulevards anzulegen (1848 ff.).
Das Hell-Dunkel, die stürzenden Mauern, die brodelnde Menge nahezu unbekleideter Menschenleiber – das ruft den Eindruck von Apokalypse und Weltgericht hervor.
 
Der Maler Daubigny, ein Freund Daumiers, soll bei der Betrachtung der Sixtinischen Kapelle im Vatikan ausgerufen haben: „Das ist ja wie von Daumier!“ In die gleiche Richtung geht der von dem Dichter Honoré de Balzac (1799 – 1850) überlieferte Satz: „Ce gaillard-là a du Michel-Ange sous la peau!“ (frei übersetzt: „Der Kerl hat Michelangelo im Blut!“). In der Tat liegt der Gedanke an den genialen Maler / Bildhauer Michelangelo nahe und charakterisiert Daumiers hohe Begabung für die Erfassung der plastischen Gestalt.
Nicht nur die Büsten der Deputierten der Juli-Monarchie (nach 1830 in der Zeit des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe) – vgl. Katalog S.62 ff. -, insbesondere auch die Statue des Ratapoil (1850, Katalog S.90) erweisen Honoré Daumier als Meister der Plastik und bahnbrechenden Künstler in diesem Bereich. Sein Zugriff auf das Tonmaterial – Daumier war kein Steinbildhauer – erscheint so spontan und gleichzeitig sicher wie ein Gedankenblitz. Wer beispielsweise die Büste des Politikers D’Argout oder die Figur des Agenten Ratapoil betrachtet, wird rasch erkennen, daß die Arbeiten Auguste Rodins (z.B. der Dichter Balzac) und Alberto Giacomettis (Portraitbüsten) kaum vorstellbar sind ohne Daumiers vorangehende und so modern anmutende Skulpturen.
 
Aber auch bei großen Malern des ausgehenden 19. und des frühen 20. Jahrhunderts „schimmert“ Daumier durch. Ich glaube das z.B. bei Edvard Munch (1863 – 1944) und James Ensor (1860 – 1949) zu bemerken.
Der Katalog geht auf die Bedeutung Daumiers im 20. Jahrhundert und darüber hinaus ein (S.23 ff.). Der Maler Nicolas de Staël z.B. würdigt Daumier in einem Brief an Jacques Dubourg als großen Künstler, und der vielseitige William Kentridge sieht sogar einen wichtigen Einfluß Daumiers auf russische Avantgarde-Filmemacher wie z.B. Sergei Eisenstein („Panzerkreuzer Potemkin“, Treppenszene). Auch Francis Bacon mag in seinen Portraitstudien von Daumier beeinflußt worden sein.
 
Viele Aspekte der Ausstellung können in diesem Beitrag nicht behandelt werden. Nicht ausgelassen werden darf aber der Sektor Fotografie, der in der Konzeption der Ausstellung eine hervorragende Rolle spielt. Und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen werden Fotografien präsentiert, die Daumiers Paris im Umbruch und sein Umfeld veranschaulichen.
Die in ihrer Positionierung neben grafischen Blättern und Gemälden zeigen, was Daumier gesehen und „registriert“ hat. Beispielsweise Straßenszenen mit Bänkelsängern, Schaustellern, Akrobaten (vgl. Katalog S.105,107) oder Schornsteinfeger auf dem Weg zur Arbeit (Katalog S.20).
Zum anderen enthält der Katalog hervorragende Portraitfotos von Gaspard-Félix Tournachon, der unter dem Namen Nadar in die Kunstgeschichte eingegangen ist. So sehen wir z.B. den mit Daumier befreundeten Dichter Charles Baudelaire (Kat. S.201), die Maler Millet und Corot (Kat. S.203) und auch Honoré Daumier selbst, ca. 50 Jahre alt (Kat. S.203).
Nadar war nicht nur ein Fotograf von hohem Rang, er betätigte sich auch als begabter Karikaturist, und schließlich versuchte er sich als Aeronaut. Daumier zeichnete ihn als kühnen Balkonfahrer, der Paris aus luftiger Höhe fotografiert und schrieb unter das Bild: „Nadar élevant la Photographie à la hauteur de l’Art“. Ja, Nadar erhebt die Fotographie zur Kunst! (Katalog S.146).
Wir verdanken dem früheren Direktor des Institut Français in Düsseldorf Max Vilette, einem hochgebildeten und rührigen Mann, daß bereits 1976 in der Kunsthalle Düsseldorf Nadar in der Vielfalt seiner Begabungen und Tätigkeiten präsentiert wurde, auch mit dem Modell eines Helikopters aus dem Besitz des Pariser Musée de l’Air.
 
Honoré Daumier – ein Phänomen! Wie kommt es, daß er heute bekannter, interessanter ist als gestern? So viele berühmte Zeitgenossen,

Honoré Daumier - © Joachim Klinger
die Kunstgeschichte geschrieben haben: Delacroix, Corot, Millet! Und doch: Daumier hat eine größere Bedeutung für uns, er ist uns näher. Das mag damit zusammenhängen, daß er in seinem Werk alle gesellschaftlichen Schichten erfaßt, Alltagssituationen künstlerisch bannt, den Menschen in seiner Erbärmlichkeit zeigt und ihm doch seine Würde läßt.
 „Bonhomme“ nannten ihn seine Freunde (Kat. S.15), einen „guten Kerl“, immer bescheiden, verträglich, am Rande des Existensminimums lebend, freundlich und schlicht. Seine Menschlichkeit ist auch in seiner Kunst spürbar, eine brüderliche Nähe. Honoré Daumier wird geachtet und geliebt.
 
Da ist das imposante Werk einer Stadtzerstörung (Le Riot, Kat. S.75). Aber daneben gibt es Daumiers anrührende Litographie, die ein altes Ehepaar am Fenster eines Hauses inmitten der städtischen Trümmerlandschaft zeigt (Kat. S.202). Nebenan und gegenüber sind Männer mit Abbrucharbeiten beschäftigt. Plötzlich ein Ausblick auf die Stadtlandschaft mit der Seine!
Und was sagt der Mann mit der Zipfelmütze, vor sich auf der Fensterbank einen Blumentopf mit armseligen Stengeln? Er sagt: „Jetzt wird mein kleiner Blumentopf Sonnenlicht bekommen, und ich werde endlich wissen, ob das eine Rose oder eine Nelke ist!“
In einem ärmlichen Häuschen lebte Honoré Daumier mit seiner Frau. Als er – wie so oft in finanziellen Nöten – fürchten mußte, sein Heim zu verlieren, kaufte es der Freund Corot für ihn (zwei Abbildungen des Hauses im Katalog auf S.208). Daumier blieb dort bis zu seinem Tode.
 
Danach wuchsen sein Ansehen und die allgemeine Anerkennung. Ja, Daumier war Republikaner, und die junge französische Republik war sich dessen bewußt. Delacroix hatte das aufrüttelnde Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ geschaffen (Katalog S.35), eine junge Frau mit entblößtem Busen, der Jakobinermütze auf dem Kopf und mit der Trikolore in der erhobenen Rechten – die Leitfigur „Marianne“ (1830). Kampf auf den Barrikaden – ein Appell!


Eugene Delacroix - Die Freihet führt das Volk

Honoré Daumier zeichnet sie im Revolutionsjahr 1848 als anmutige Frau, die durch die geöffnete Flügeltür eintretend Luft und Licht in einen stickigen Raum hineinläßt, in dem bürokratische Gestalten die Flucht zu ergreifen suchen (Kat. S.89). Das Bild erschien in der Satire-Zeitschrift „Le Charivari“ am 9. März 1848 und ist untertitelt: „Die letzte Sitzung der Ex-Minister“. Da weht ein neuer Wind!
 
Honoré Daumier hat eine Tür aufgestoßen, und den Geist der Freiheit eingelassen, auch und vor allem in der Kunst.
Ich empfehle allen Kunstfreunden, die Bekanntschaft von Honoré Daumier zu suchen oder sie zu vertiefen, wenn sie schon besteht.
 
Weitere Informationen: www.royalacademy.org.uk/