Winter II

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker

Winter II
 
 Die meiste Zeit ist man nicht auf der Welt“, sagte meine Frau vorhin.
 
Sie sagte das, als wir aus der Malschule kamen, in die wir immer sonnabends gehen. Ich meinte, der Vormittag habe wieder das gehalten, was wir uns von ihm versprochen hatten - Treffen mit freundlichen Menschen, Vergessen aller anderen Lebenszusammenhänge, Freiheit von jeder Art Getrieben-Sein, freundliche Versenkung in jeden Pinselstrich. Ich malte eine sanfte Landschaft mit großen Flächen beliebiger Farbe, über der ein riesiger, schwarzer Vogel schwebte.
Jetzt erzählte eine Mit-Malerin von ihren gesundheitlichen Beschwerden. – Das stimme sie nicht immer fröhlich. Von ihr erfuhren wir auch Neues über eine andere Kollegin, die noch nicht eingetroffen war: Sie solle am Montag zu einer Operation in die Klinik.
 „Was soll ich Ihnen wünschen?“ fragte ich sie beim Abschied.
„Zuversicht“, antwortete sie.
 
Wieder zuhause. Draußen liegt goldenes Nachmittagslicht auf den Baumästen. Der Winter hat offiziell noch nicht begonnen.
Fips, das lokale Eichhörnchen, flitzt durch den Garten. Die Fahnen in den Gärten hängen kraftlos herunter. Die Studenten in den Hörsälen starren nach vorne, stelle ich mir vor, die Monteure mit ölverschmierten Armen tauchen in die Motoren hinein; ich wundere mich, daß alles nicht mehr ist, was mir je begegnet ist..
Drinnen finde ich mein Mittagessen vor. Auf dem Tisch steht die Miniatur des nachdenklichen Affen mit dem Totenschädel in den Händen. Wie alle Denkmäler hat der haarige Getreue während der ganzen Nacht für uns nachgedacht.
 
 Danach gehe ich nach draußen. Die Stille redet mit tausend Stimmen auf mich ein, sie schwatzt und sie lacht schrill auf. Ich höre heraus, daß ich angeblich keine Ahnung von etwas habe. Darum denke ich auch so viel Unsinn.
Drinnen im Wohnzimmer hat Oma, Hundertzwei, ihr Mittagessen beendet. Sie blickt mich aufmerksam an.
„Was machen wir nun?“ frage ich sie.
„Sag erst, was du machst, antwortet sie.
„Nein. Erst du.“
„Ich denke nicht daran“, sagt Oma. „Dann weißt du es ja im Voraus.“
 
Wir einigen uns darauf, daß wir uns beide zum Mittagsschlaf niederlegen werden. Gleich wird mit der Tochter auch Susi, unsere kleine Hündin, eintreffen und sich zu Oma gesellen. Sie macht nicht viel Aufhebens, sie verlangt nicht mehr von sich, als sie bieten kann – warme Nähe.
 
 
 
© 2013 Karl Otto Mühl
Erstveröffentlichung in den Musenblättern