Tod eines Einsamen

von Karl Otto Mühl
Tod eines Einsamen
 
Schon der vierte alte Freund ist in diesem Jahr gestorben. Ich sage das mit einer Art Vorwurf in der Stimme, fällt mir auf.
Es war wie schon oft: Das Gefühl, ihn anrufen zu müssen, hatte sich in den Tagen davor verstärkt. In den letzten Jahren erging es mir fast immer so.
Ich rief ihn an, und wir führten ein unauffälliges Gespräch. Er sprach übrigens immer extrem gleichmütig, fast unbeteiligt, und das nicht erst, seit er alt geworden war. So sprach er schon vor dreiundsiebzig Jahren. Es paßte zu seinem glatten, freundlichen Konfirmandengesicht, das mich an Max Raab, den Sänger alter Evergreens, erinnerte.
Tatsächlich, denke ich gerade – er sprach immer gleichmütig, aber nie über seine Gefühle, und dazu paßte sein freundliches Gesicht mit dem verbindlichen Ausdruck.
 
Auch in den letzten Jahren hatte nie etwas über seine Empfindungen gesagt.
Dabei fand ich, daß er, der Neunzigjährige, ein elendes Leben hatte. Er war fast blind, hatte Herzinfarkte hinter sich, wohnte in einem alten Schieferhaus, das ihm gehörte, allein. Seine Frau war vor einigen Jahren gestorben.
Er ging nie aus dem Haus. Die Gründe waren Schwäche und Sehbehinderung. Niemand besuchte ihn (doch, einmal im Jahr kam aus Hannover ein Verwandter zu Besuch). Lebensmittel kauften die Nachbarn für ihn ein.
 
Vor dreiundsiebzig Jahren spielten wir zusammen in einer Theatergruppe. Seine Kabarett-Nummer, für die er immer Beifall bekam, war das Gedicht „Der Überzieher“. Bei diesem Vortrag wurde er sprühend lebendig.
 
Er hatte einen leisen, friedlichen Vater und eine übermächtige, aber gewinnende Mutter. Heute meine ich, er sei immer Sohn gewesen, vielleicht auch Sohn, der schließlich von daheim wegblieb, weil er eine andere, übermächtige Person gefunden hatte; auf jeden Fall blieb er aber ein Sohn, der den Mann in ihm vertreten mußte.
Kinder hatten er und seine Frau nicht.
Diese Schilderung klingt ungerecht, ist es auch. Er war vor allem ein fleißiger, treuer und gewissenhafter Mensch. So bescheiden, daß es manchmal weltfremd wirkte.
Weihnachten hatten wir ihn besucht und einen gefüllten Weihnachtsbeutel für ihn auf den Nebentisch gestellt. Einige Stunden, nachdem wir ihn verlassen hatten, rief er an: Wir hätten ja einen Beutel mit Geschenken bei ihm stehen lassen.
Er konnte sich nicht vorstellen, daß ihm jemand etwas schenkte.
Wenige Tage nach unserem Telefonat bekam ich die Todesanzeige. Ich werde zur Beisetzung fahren.
Im Augenblick aber sitze ich still in meinem Arbeitszimmer am Schnittpunkt meiner Erinnerungen und gegenwärtiger Stille. Nichts scheint zu geschehen, aber natürlich geschieht doch etwas.
Ich schiebe nämlich meine Füße langsam in die neben mir stehenden Clogs, und denke dabei, daß dies und alles, was ich wahrnehme, schon geschehen ist.
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Es ist freilich keine neue Erkenntnis, daß wir die Gegenwart immer nur als Vergangenheit erleben können.
Neu ist für mich allerdings, daß sich jetzt, wenn ich die vergangene Gegenwart loslasse (und das tue ich jetzt) überwältigende Leere auftut, und ich stelle mir vor, daß ich am Rande von Unendlichkeit und Ewigkeit stehe, ganz dicht, und es ist die Gewalt der Leere, die mich überfällt, der graue Nicht-Raum vor mir; und vielleicht eine Art innerer Horizont, hinter dem ich ein Spiel von Licht, Musik und Farben erahne.
 
Und das Besondere: Es gibt keine Angst. Sie ist unbekannt.
 
 
 
© 2013 Karl Otto Mühl
 
Redaktion: Frank Becker