Muster-Imbiß

Ein merkwürdiges Erlebnis

von Eugen Egner

Foto © Frank Becker

Muster-Imbiß


Seit Stunden fuhren wir schon durch die Gegend, immer hin und her, wieder und wieder von hinterrücks vertauschten Ortsschildern und lügenhaft beschrifteten Wegweisern in die Irre geschickt. Fragte man Menschen am Straßenrand, machten sie ebenso widersprüchliche Richtungsangaben und behaupteten mit gleichbleibender Dreistigkeit, der gesuchte Ort sei ausgeschildert. Es fiel auf, daß die sonst recht leere Landschaft erstaunlich viele Rostbratwurst-Stände aufwies, und so gewannen wir den Eindruck, die Rostbratwurst sei das einzige Industrie-, Handels- und womöglich auch Kulturgut dieses Teils der Welt. Manche Stände wirkten provisorisch bis desolat, andere machten einen haltbareren, ja geradezu schon stationären Eindruck. An einem solchen, aus einem größeren Holzverschlag mit integrierter Verkaufstheke bestehend, hielten wir, um den inzwischen existenzbedrohenden Hunger zu stillen. Mit letzter Kraft schleppten wir uns zu der von ihrem Inhaber mit dem Schriftzug „Muster-Imbiß“ versehenen Bude. Hinter der selbstgezimmerten Theke befand sich ein Baumarkt-Grill, der von einem Einheimischen mit Würsten beschickt wurde. Erstaunlich viele wurden soeben gebraten. Dies erklärten wir uns damit, daß in einer seitlichen Erweiterung des Verschlags drei Personen saßen, eine Greisin sowie eine Frau und ein Mann, die vielleicht zwanzig Jahre jünger waren. Aber konnten sie wirklich so viele Würste bestellten haben? Der Mensch am Grill bemerkte unser Interesse an den Leuten im Verschlag und sagte: „Die machen hier Urlaub.“ „Da drin?“ fragte einer von uns scherzhaft. „Ja, klar“, antwortete der Wurströster vollkommen ernst. Wir sagten nichts dazu, sondern gaben unsere Bestellung auf und warteten. Flüsternd spekulierten wir untereinander, ob der „Muster-Imbiß“ vielleicht nur eine Alibiveranstaltung und in Wirklichkeit eine Terrorzelle sei. In einem Landstrich, wo unablässig Wegweiser und Ortsschilder ausgewechselt wurden, wäre dies kein Wunder gewesen, zudem konnte jeder ein Terrorist sein.

Als wir dann unsere fertigen Würste erhalten und bezahlt hatten, zogen wir es vor, sie im Wagen zu verzehren. Wir erwogen sogar, zuvor eine weiter entfernte Stelle anzusteuern, falls jemand im Verschlag auf den Gedanken kommen sollte, sich selbst in die Luft zu sprengen. Indem wir unsere Unzufriedenheit mit der Formulierung „In die Luft sprengen“ feststellten und erfolglos versuchten, eine bessere, weniger harmlos klingende zu finden, blieben wir dann doch, wo wir waren. Stumpfsinnig die Würste kauend, beobachteten wir den „Muster-Imbiß“. Einer der angeblichen Urlauber, der Mann, kam aus dem Verschlag heraus. Er schloß einen auf dem Grundstück abgestellten PKW auf und stieg ein. Kurz darauf traten auch die beiden Frauen ins Freie. Die jüngere führte die ältere, die furchtbar elend und gebückt dahinschlich, offenbar halbtot vom übermäßigen Wurstessen. Vielleicht wollte der Mann sie von ihren Qualen erlösen, denn er ließ den Motor an und versuchte ein ums andere Mal, die Greisin zu überfahren. Es gelang ihm jedoch nicht, vermutlich fehlte ihm ein Enzym. Wir konnten es irgendwann nicht länger mitansehen und fuhren weiter, immer hin und her.


© Eugen Egner - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007