Zipferlak auf dem Dach

In memoriam Christian Morgenstern (1871-1914)

von Jochim Klinger


Zipferlak auf dem Dach
 
Er reckt sich hoch zur Regenrinne
auf langen Beinen – wie die Spinne -
und schwingt sich auf das große Dach.
 
Dort rüttelt er an den Antennen,
beginnt die Drähte abzutrennen.
Der erste Mieter wird schon wach.
 
Da flimmern Bilder, schimmern Röhren,
und fremde Klänge sind zu hören.
Was klappert oben auf dem Dach?
 
Es kreischt von Rädern und Turbinen
und wie vom Schnellzug auf den Schienen.
„Ein Kurzschluß!“ sagt ein Mann vom Fach.
 
Die Leute springen aus den Betten.
Die Feuerwehr kommt, um zu retten.
Der Zipferlak macht sich ganz flach.
 
Die Pumpe streikt, die Schläuche lecken.
Die Leute hüllen sich in Decken.
Der Wasserdruck ist viel zu schwach.
 
Es brennt ja nicht, doch die Geräte
verbreiten Qualm, und ohne Drähte
dröhnt die Musik vom großen Dach.
 
Der Zipferlak hat sich verkrochen
im Schornstein, die Gefahr gerochen,
denn man holt Wasser aus dem Bach.
 
Ein Kommissar erscheint als Reiter,
die Männer stellen eine Leiter.
Ein Trillerpfiff dringt durch den Krach.
 
Der Zipferlak entfleucht als Krähe,
doch bleibt er kreisend in der Nähe.
Die Feuerwehr besetzt das Dach.
 
 
Joachim Klinger