Camille Pissarro

Vom ländlichen Naturraum zur modernen Großstadt

von Rainer K. Wick

Boulevard Montmarte (Faschingdienstag am  Nachmittag) 1897

Camille Pissarro.
Vom ländlichen Naturraum zur modernen Großstadt
 
Wer eine Ausstellung mit Werken des französischen Impressionismus zeigt, braucht sich um die Akzeptanz des breiten Publikums keine Sorgen zu machen. Dies zeigt einmal mehr die große Pissarro-Ausstellung im Wuppertaler Von der Heydt-Museum, die am 12. Oktober mit einem spektakulären Festakt in der Historischen Stadthalle in Anwesenheit von rund 1500 Gästen eröffnet (siehe Pissarro-Ausstellung glanzvoll eröffnet, Musenblätter 17.10.14) und inzwischen von mehr als 50.000 Besuchern gesehen wurde. Ergänzend zu dem Ausstellungsbericht Camille Pissarro - Der „Vater des Impressionismus“ (Musenblätter 11.10.14) soll im folgenden auf einen Teilaspekt der Wuppertaler Ausstellung aufmerksam gemacht werden, nämlich auf die Stadtbilder Pissarros, die der Direktor des Museums, Gerhard Finckh, am Ende des Rundgangs zeigt und die in besonderer Weise die Modernität des Künstlers dokumentieren.
 
Problematische Zuschreibung
 
Innerhalb der Impressionisten-Bewegung war Pissarro über Jahrzehnte eine maßgebliche Integrationsfigur. Die Tatsache, daß er der einzige war, der zwischen 1874 und 1886 an sämtlichen acht Gruppenausstellungen der Impressionisten teilgenommen hat, bezeugt sein hartnäckiges Festhalten an den Prinzipien dieser neuen künstlerischen Richtung. Das schloß nicht aus, daß er offen für

Blick von der Pont-Neuf auf die Seine und den  Louvre 1903
Einflüsse jüngerer Kollegen war, so etwa für die Bildtektonik eines Paul Cézannes oder später für die divisionistischen Malpraktiken von Seurat und Signac. Wenn Wuppertal den Künstler als „Vater des Impressionismus“ feiert, so mag diese Zuschreibung im genealogischen Sinne fragwürdig sein – in dieser Hinsicht wird man eher Édouard Manet die (allerdings unfreiwillige) Vaterrolle zuzubilligen haben. Als der Älteste der Gruppe war er aber gleichsam „Verteidiger und Apostel“ (François Mathey) des Impressionismus, und für manche der Jüngeren war er verständnisvoller Ratgeber und väterlicher Freund. Cézanne hat gesagt: „Pissarro war für mich ein Vater. Er ist ein Mensch, den man um Rat fragen kann, und so etwas wie der liebe Gott“ – und mit seinem mächtigen Rauschebart könnte der Künstler tatsächlich das Klischee der gütigen Gottvaterfigur bedient haben.
Die Wuppertaler Schau, die alle Phasen des Werkschaffens des Künstlers berücksichtigt, macht deutlich, daß er nicht das Temperament, die Spontaneität und die Kühnheit eines Monet hatte, sondern ruhiger, bedachter, auch prosaischer war als jener. Der Kunstkritiker Théodore Duret, Freund der Impressionisten, testierte Pissarro, seine Arbeiten zeigten zwar nicht das Gefühl für das Dekorative wie die Sisleys, auch habe er nicht „Monets phantastisches Auge“, dafür aber „ein inneres, tiefes Naturempfinden und eine Kraft des Pinselstrichs“, die es ihm erlauben würden, „ebenso hoch [zu] kommen wie jeder andere Meister.“
 
Exemplarische Landschaftsbilder

Schneelandschaft in Louveciennes1872
 
Daß er, anders als Manet oder Renoir, kein großer Figurenmaler war, wird in Wuppertal allzu offensichtlich, und seine Stilleben muten im Vergleich zu den streng gebauten, zukunftsweisenden Kompositionen eines Cézanne eher konventionell an. Als Landschafter sind ihm aber Werke gelungen, die in exemplarischer Weise belegen, was impressionistische Malerei ausmacht: das flirrende Spiel des Lichts, die Flüchtigkeit des Augenblicks, das Atmosphärische, die Vibration der Oberfläche, die Auflösung der Umrißlinie, der skizzenhafte Duktus, die Frische der Farben. „Schneelandschaft in Louveciennes“ von 1872 mit ihren farbigen Schatten ist eines jener zahlreichen fabelhaften Bilder der Wuppertaler Ausstellung, die als das Credo eines vollkommenen Impressionisten verstanden werden können.
In den meisten Fällen handelt es sich um Landschaften, die eine heitere, vom Menschen kultivierte Natur mit Häusern, Feldern und Gärten zeigen. Zuweilen sind auf den Straßen Passanten zu sehen, ab und zu taucht auf den Flüssen ein Lastkahn auf, manchmal in Gestalt eines Dampfschiffs, hin und wieder deutet ein rauchender Schonstein an, daß die Industrialisierung auch vor ländlichen Gebieten nicht Halt gemacht hat. Pissarro, Impressionist und Augenmensch par excellence, nimmt das wahr, registriert es, ohne es zu bewerten – weder zu beschönigen, gar zu heroisieren, noch zu leugnen oder anzuklagen.
 
Urbane Gegenwelten
 
Diese neutrale, ja distanzierte, zugleich aber an den Phänomen prinzipiell interessierte Haltung zeichnet auch die in Wuppertal breit

Aufsteigender Rauch an der Pont Boieldieu 1896
dokumentierte Werkgruppe der Ansichten von Rouen, Dieppe und Le Havre sowie insbesondere die Pariser Stadtansichten aus, die gegenüber den beschaulichen Landschaften ein urbanes Kontrastprogramm darstellen. Diese späten Bilder entstanden seit den 1880er Jahren bei ausgedehnten Aufenthalten in den drei nordfranzösischen Hafenstädten und in der Hauptstadt, wo sich der Künstler in den großen Hotels ein Zimmer mietete, um von dort aus malen zu können. Während Claude Monet in seiner berühmten Bildserie der Fassade der gotischen Kathedrale von Rouen ein historisch nobilitiertes Motiv wählte, wurde Pissarro von dem durch Technik und Industrialisierung geprägten „modernen Leben“ der Hafenstadt angezogen. So etwa, als er 1896 das atmosphärisch dichte Bild „Aufsteigender Rauch an der Pont Boieldieu in Rouen im Sonnenuntergang“ schuf. Was ihn an der schräg in die Tiefe führenden, erst zehn Jahre zuvor erbauten eisernen Brücke faszinierte, war ihr Anblick „bei Schmuddelwetter mit viel Wagenverkehr, mit Fußgängern, [...] Schiffen, Rauch, Dunst in der Umgebung, sehr lebendig und sehr bewegt“ (Pissarro).
 
Das „Neue Paris“
 
Ist es hier die Realität eines im industriellen Aufschwung befindlichen Ortes, der sich der Maler zuwandte, so waren es in Paris neben der Seine mit ihren Brücken, dem Louvre und den Tuilerien die großen Boulevards und Plätze, die unter Kaiser Napoléon III. in den 1850er und 60er Jahren gemäß den Planungen des Stadtpräfekten Georges-Eugène Haussmann entstanden waren. Haussmann hatte das alte Paris einer radikalen Verjüngungskur unterzogen, indem er – die mittelalterliche Bausubstanz dabei zum Teil zerstörend – schnurgerade, breite Schneisen durch die Hauptstadt legen ließ. Sie sollten den Anforderungen des modernen Verkehrs gerecht werden und als monumentale Sichtachsen den Stadtraum übersichtlich gliedern. Vorgeschrieben war eine hinsichtlich

Boulevard Montmarte bei Nacht um 1897
Geschoßhöhe und Fassadengestaltung einheitliche Randbebauung der Boulevards mit repräsentativen Prachtbauten, einheitlich war auch die Möblierung der Straßen und Plätze mit genormten Bänken, Kiosken, Plakatsäulen und Laternen. Schon früh hatten Impressionisten wie Monet, Renoir und Caillebotte das „Neue Paris“ als mondäne Metropole des Industriezeitalters in ihr Themenrepertoire aufgenommen. Pissarro, bis dato eher der Maler ländlicher Naturräume, entdeckte dieses Bildthema erst relativ spät, um sich damit in seinem letzten Lebensjahrzehnt – er starb 1903 – um so intensiver auseinanderzusetzen. Die Wuppertaler Schau zeigt einen repräsentativen Querschnitt durch diese Werkgruppe, darunter das exzeptionelle Gemälde „Boulevard Montmartre bei Nacht“ aus dem Jahr 1897. Wie Karin Sagner in ihrem Beitrag zu dem hervorragenden Katalogbuch betont, besteht der Reiz dieser auf dem Hell-Dunkel-Kontrast und dem Kontrast der Komplementärfarben Blau und Orange beruhenden nächtlichen Szene „in der farbigen Belebung der Architekturformen durch die Lichterkette der Straßenlaternen und die orange-gelb aufleuchtende Schaufensterreihung.“ Flanierende Menschen, nur kommaartig angedeutet, beleuchtete Kutschen und die Spiegelung auf der regennassen Straße betonen das Lebendige und Flüchtige dieser Straßenszene.
 
Neuartige Sichtweise
 
Typisch für dieses Gemälde wie für zahlreiche andere Pariser Straßen- und Platzansichten Pissarros sind der erhöhte Betrachterstandpunkt und die stürzenden Perspektiven. Der Künstler scheint gleichsam zu schweben – dies übrigens ein maßgebliches Indiz der Moderne – , und die künstlerische Bewältigung der Schwierigkeiten, die die aus der Vogelperspektive
 
resultierenden Verkürzungen mit sich brachten, hat dem Maler nach eigener Aussage besondere Freude gemacht. Die Modernität dieser Bilder hat nur sekundär mit dem Sujet, dem „Neuen Paris“ Hausmanns, zu tun, sondern in erster Linie mit einer ganz unkonventionellen, neuartigen Sichtweise. Diese steilen Aufsichten, die der perspektivischen Tiefenräumlichkeit der Straßenschluchten tendenziell ein Moment der Einebnung des Raumes in eine flächenhafte Bildstruktur entgegensetzen, wurden erst Jahrzehnte später, in den 1920er Jahren, unter dem Motto „Das Neue Sehen“ zum Signum der Fotoexperimente eines László Moholy-Nagy, eines Alexander Rodtschenko und anderer, die die sog. Bauchnabelperspektive der herkömmlichen Lichtschachtkamera ablehnten und mit ihrer Leica, der ersten markttauglichen Kleinbildkamera, das Sehen revolutionierten, indem sie den Apparat bewußt kippten und so ungewohnte Drauf- oder Untersichten erzeugten. Insofern kann zum Beispiel ein Bild wie „Place du Théâtre Français“ von 1898 als Vorwegnahme fotografischer Bildformen des 20. Jahrhunderts verstanden werden, und so ist es mehr als berechtigt, wenn Pissarro seine Stadtansichten selbst als „modern in vollstem Sinne“ bezeichnet hat.


Place du Theatre Francais 1898

Alle Fotos © Rainer K. Wick


Pissarro – Der Vater des Impressionismus
Noch bis 22. Februar 2015
Von der Heydt-Museum
Turmhof 8
D-42103 Wuppertal
Katalogbuch, 400 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Hardcover, 25,- €