Hackt dieses Vieh in Stücke !

„Salome“ von Oscar Wilde, in deutscher Neubearbeitung von Einar Schleef

von Frank Becker

Foto © Sonja Rothweiler
Hackt dieses Vieh in Stücke !
 
„Salome“ von Oscar Wilde,
in deutscher Neubearbeitung von Einar Schleef
Düsseldorfer Schauspielhaus 1997

Das Düsseldorfer und mit ihm das deutsche
Theater ist um eine wegweisende
Schauspielinszenierung reicher.
 
Einar Schleef hat in einem gewaltigen Geniestreich mit seiner Fassung der „Salome“ Oscar Wildes ein Gesamtkunstwerk geschaffen, wie es nur wenigen Großen der Bühne gelingt. Seine aufsehenerregende Interpretation, bei der er nicht nur für eine neue Textfassung und die Regie, sondern auch für die Kostümgestaltung und das Bühnenbild verantwortlich zeichnet, wird lange Bestand haben und hat das Zeug, in die Theatergeschichte einzugehen. In der umjubelten Aufführung geriet bis ins Kleinste alles aus Schleefs Hand zur Perfektion, wurde eine Theatervorstellung zum Theaterereignis, und so wurden die wenigen puristischen Buh-Rufer von einer Woge enthusiastischen Beifalls hinweggeschwemmt. Selten habe ich Begeisterung derart erlebt und empfunden.
 
Schleef setzt an den Anfang, noch vor Beginn der Vorstellung ein Fragezeichen: im Programmheft wird für den Einakter eine Pause angezeigt - wie das? Der durch einen metallenen Steg, welcher von der blechverkleideten Rückwand in gerader Linie und mit unregelmäßigen Stufen abwärts zur Bühne führt, in der Mitte geteilte Zuschauerraum läßt Ungewöhnliches ahnen. Das Licht verlöscht, und in die Dunkelheit hinein hebt sich der Vorhang an der Rampe, gibt den Blick auf die ganze Tiefe der Bühne frei, die Szene in unwirkliches blaues Licht getaucht. Der Steg setzt sich fort bis zur Brandmauer, an der Rampe, gekreuzt von einem zweiten. Beiderseits verharren im Halbdämmer bewegungslos 18 Personen, eine neunzehnte kauert verhüllt auf dem Kreuzpunkt. Die Stille ist atemberaubend, prüft die Fähigkeit des Publikums, sich im Zeitalter rasender Bildwechsel und Videoclips nur eine kurze Zeitspanne mit der Ruhe konfrontiert zu sehen. Wie zu befürchten schaffen es einige nicht, verfallen in Unruhe, ja Albernheit. Knapp zehn Minuten wirkt das eindrucksvolle schweigende Bild, dann trennt der Vorhang Traum und Wirklichkeit Pause. Ratlosigkeit bei einigen, ungeheure Spannung bei anderen.
 
Das zweite Bild läßt den Blick auf eine weitere Metallwand prallen, in der Bühnenmitte herabgelassen. Leerer Raum. Aus der Ferne die rufende Stimme des fanatisch aus seinem Verlies predigenden Johannes. In der Rückwand fliegt krachend eine Tür auf, gleißendes Licht flutet ins Halbdunkel des Saales. Auftritt der Handelnden. Narraboth (Kai Scheve), Naaman (Kai Hufnagel) und ein Knabe (J.A. Roque-Toimil) rappen, wirbeln den Steg hinab, führen in die Situation bei Hof ein. Ein erster Glanzpunkt, dem in unablässiger Folge andere sich anschließen werden.
Die Wand in der Bühnenmitte hebt sich, öffnet den Raum abermals in ganzer Tiefe. An der Brandmauer im Hintergrund angeschmiedet, unendlich fern, ist Johannes, der Prophet (Robert Beyer), nackt, nur gekleidet in die Macht des Wortes, mit dem er das Kommen des einzigen Gottes verkündet.
Weitere Auftritte: Salome (Ursina Lardi), Stieftochter des Herodes, schreit, keift, flüstert, verlangt, verzweifelt, ein völlig rnaßstabloses Geschöpf seiner verrotteten intriganten Umgebung, unschuldig weiß. Herodes (Helmut Mooshammer), König, ängstlicher Tyrann, Despot zwischen Wahnsinn und politischem Kalkül, irrlichternd, mit sich überschlagender Stimme, bis zum Wahnsinn in erotischer Übersättigung seiner jugendlichen Stieftochter verfallen. Herodias (Bibiana Beglau), Mutter Salomes und ihn hassende Frau des Herodes, schrill, Inbegriff schillernder Weiblichkeit, in schlichtweg grandioser Maske und Kostüm. Zu diesem Stichwort eine Bemerkung: Die Kostüme nach Schleefs Entwürfen bilden, ob Prachtgewand oder transparenter  Schleier, ja sogar in der Nacktheit durch Körperfarbe, eine absolut harmonische Einheit mit Bühne und Inszenierung.
 
Von einer Galerie hinter dem Publikum skandiert ein Chor von elf Würdenträgern in der Kleidung orthodoxer Juden mit der Wucht von Hammerschlägen unisono opportune Wendungen und Kommentare. Sie verlangen die Auslieferung des Johannes, in dem sie eine Gefahr sehen, wie auch Herodias, die seinen Tod wünscht. Herodes, der ihn gleichermaßen fürchtet wie anerkennt, verweigert das. Salome, körperlich noch unberührt, doch in der sinnlichen, blutschwangeren Atmosphäre am Hof ihrer Stiefvaters seelisch pervertiert, vergafft sich in den asketischen Propheten. Als dieser sie zurückstößt und verflucht, faßt sie in irrsinniger Begierde einen Plan. Sie bietet Herodes unter dessen Versprechen ihr alles zu gewähren an, für ihn zu tanzen und sich für ihn zu enthüllen. Sie tut es und fordert den Kopf des Propheten. Herodes will sich weigern, muß aber nachgeben und läßt Johannes enthaupten. Als Salome triumphierend die begehrten Lippen des abgeschlagenen Hauptes küßt, gibt Heordes, erfaßt von Abscheu und Entsetzen, Befehl sie zu töten.
 
Alle Protagonisten, von Perversion oder Kalkül getrieben, bekommen, was ihnen eigentlich verwehrt ist und zahlen einen hohen Preis: Herodes kann seine geilen Blicke auf den Körper der Stieftochter heften und muß den Propheten hergeben, sein Unterpfand Gottes. Salome bekommt den in perverser Gier verlangten Kopf und Kuß und zahlt mit ihrem Leben. Herodias erreicht den gewünschten Tod des Johannes und verliert die Tochter, deren Schutz ihr die letzte moralische Aufgabe war. Unschuldig sterben der Prophet durch Henkershand und Narraboth, der sich aus verschmähter Liebe selbst den Tod gibt.
Nach grausigem Handlungsende werden sämtliche neunzehn Beteiligte hinter den Vorhang auf die Bühne geführt, um in stummem Schlußtableau den Kreis zum Anfangsbild zu schließen. Schleef erzählt die Geschichte in beängstigend schönen, dabei unaufwendigen Bildern, Wortkaskaden, Ausbrüchen, winzigen Momenten der Besinnung und in gnadenloser Klarheit, ohne je peinlich oder flach zu werden. Das Blutrünstige und Perverse umhüllt er mit Dunkel, aus dem Worte dringen, deutet Blutiges mit rotem Laserlicht an, läßt es nur in den Köpfen geschehen. Körperliche Nacktheit wird zum wichtigen Instrument, ist unanstößig, symbolisiert Verlorenheit, Ausgeliefertsein, Hilflosigkeit, schließlich den Tod.
Auf der Bühne entfaltet sich ein ästhetisches Erlebnis allerhöchster Güte, zugleich durch das inszenatorische Gesamtwerk wie durch die glanzvolle Leistung des hochmotivierten Ensembles, allen voran Mooshammer, Beglau, Lardi - alle geben alles bis ins letzte, ins kleinste Detail, zeigen absoluten Einsatz und allerhöchste Schauspielkunst.

Bravo! Theater!