Alte Liebe

von Karl Otto Mühl

Alte Liebe
 
Gestern habe ich alten Leuten im Seniorenheim kleine Geschichten aus meinen Büchern vorgelesen. Auch für mich gab es da viel zu erleben.
Im Halbkreis vor mir einige Dutzend alter Herrschaften. Bemerkenswert: Wenige kamen im Rollstuhl oder mit Rollator, die meisten schlurften noch dahin und hörten aufmerksam zu. Ob sie gesünder geblieben waren, weil sie zu den Besserverdienenden gehörten? Dies hier war ja ein gehobenes Heim. Und zwischendurch traf ich sogar Bekannte, eine Witwe aus unserer Wohnsiedlung, die hier eine betreute Wohnung hat; dann ein schlankes Ehepaar, beide über Neunzig. Der Mann sprach mich an: „Das hätte ich auch nicht gedacht, daß wir  uns im Leben noch einmal begegnen würden.“
Es stellte sich heraus, daß wir in der Hitlerzeit als Dreizehnjährige in derselben Gruppe „Pimpfe“ waren. Ich weiß noch: Wir trugen braune Hemden und schwarze, kurze Hosen und Blousons. Beides nähte meine Mutter selbst, um Geld zu sparen.
An mehr erinnere ich mich nicht aus diesen etwa zwei Jahren – Marschieren, Singen, Antreten, Vorgelesenes über Wittekind und Strut von Winkelried anhören. Das schien ja alles wichtig zu sein.
An den Jungzugführer erinnere ich mich. Er hieß Manfred und hatte ein breites, gutmütiges Gesicht. Seine Eltern waren Verwalter in einem Altersheim.
Warum unterhielt er sich mit mir, dem Jüngeren, der nur eine nebelhafte Vorstellung von sich selbst hatte, geschweige denn ahnte, wie ihn andere sahen? Vielleicht habe ich versucht, mich irgendwie interessant zu machen. Ich muß ihm ja aufgefallen sein.
Er nahm mich mit nach Hause in sein Zimmer und berichtete mir da, daß er, der Sechzehnjährige, eine richtige Freundin hatte. Sie war mehr als zehn Jahre älter als er und hatte ein verkürztes Bein. Und sie schrieb Gedichte. Mehr weiß ich nicht mehr von damals. Ja, und ich denke jetzt, daß mich eine unbewußte Hemmung davon abhielt, an Intimitäten zwischen Manfred und ihr zu denken oder sie mir gar vorzustellen. Ich glaube aber, er wollte es sogar ahnen lassen, weil es ihn mit Stolz erfüllte.
Während ich dies aufschreibe, fällt mir doch immer mehr dazu ein. Den Manfred muß der Krieg verschluckt haben. Ich hörte nie mehr von ihm. Er muß gefallen sein.
Jahrzehnte waren seitdem vergangen. Dann las ich manchmal in der Zeitung, daß die Frau, die ihn, wie sie mir später einmal am Telefon sagte, nie vergessen hat, daß diese Frau immer noch Gedichte schrieb und veröffentlichte. Öfter hörte ich Bekannte ihren Namen nennen und fühlte mich dann als Bewahrer verborgener Geheimnisse oder sogar versunkener Zeitalter.
Und dann rief sie mich einmal an. Sie sei jetzt alt und nicht mehr so gesund, und sie wisse nicht, wem sie ihren literarischen Nachlaß anvertrauen könne. Ob ich einen Rat wisse? Für ihr Problem fand sich eine Lösung. Der Stadtarchivar, ein bekannter Historiker, war bereit, den Nachlaß ins Archiv zu nehmen.
Gestern im Altenheim ist mir dies alles wieder eingefallen. Auf einmal denke ich, daß ich mehr Freunde habe, als ich im Augenblick sehe. Ich kann nicht anders, ich muß die Vorstellung zulassen, daß die beiden mir jetzt zustimmend zunicken.
Meine Altenheim-Lesung hatte noch Spätfolgen. Ein Freund, dem ich davon berichtet hatte, schrieb mir, er habe seine Schwester einmal zu einer Kurzzeitpflege dort untergebracht, und sie sei sehr zufrieden gewesen.
Der Freund war im letzten Krieg Jagdflieger. Er muß etwa Vierundzwanzig gewesen sein, als er über Aachen eine englische Maschine abschoß. Der Pilot rettete sich mit dem Fallschirm und war bis Kriegsende in deutscher Gefangenschaft. Später haben mein Freund und er sich regelmäßig besucht und wurden gute Freunde. Es wäre sicher besser für alle gewesen, sie wären das ohne Fliegen und Schießen geworden.



© 2015 Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern