Marseille am Nachmittag

von Karl Otto Mühl

Hptm. Hans-Joachim Marseille - unbek. Fotograf
Marseille am Nachmittag
 
Soeben war ich in der Garage, mein vermißtes Handy im Auto suchen und schließlich finden. Um mich herum das Gewimmel von Bäumen, Sträuchern, Kleingärten, Ein- und Zweifamilienhäusern; schlanke, braune und schwarze Baumstämme, die in den Himmel schießen wie Pfeile. Dazu die Sinfonie des Frühlings, die aus dem sanften Rauschen des Windes besteht, dazu noch die triumphierenden Fanfarenstöße von Licht, das zwischen den Bäumen aufblitzt.
 
Ich spaziere ein Stück weit und sehe ein stummes, altes Paar auf der Bank vor der kleinen Kirche sitzen.
„Setzen Sie sich ruhig hierhin“, sagt der alte Mann, „kostet nichts“.
Ich folge seinen Worten. Auch ich hielte die Bankbenutzung nicht für gebührenpflichtig, ergänze ich.
„Sonst wären wir ja Bank-Preller“, sagt der alte Mann.
Nachdem wir uns noch über die Wichtigkeit von Aufzügen für alte Leute verständigt haben, stehen die beiden langsam auf und schlurfen nach guten, beiderseitigen Wochenendwünschen davon.
 
Jetzt bin ich allein, nur noch umstürmt von zwanghaften Pflichtgefühlen – was wäre jetzt noch zu tun?-, die aber langsam verblassen. Ich sitze im Nachmittagslicht auf einer Bank vor einer kleinen Kirche. Menschen sehe ich nicht, weiß der Teufel, wo sich die Hunderttausende versteckt haben, die in dieser Stadt wohnen.
Stattdessen ist Leere herangekrochen und breitet sich aus – Leere ohne ein Vorher und Nachher.
Ich könnte aufstehen, um ihr zu entgehen.
Aber mir fallen die entleerten Stunden vergangener Jahrzehnte ein, und ich merke, daß es gerade diese Stunden sind, die mir heute wie wohltätige, schicksalserfüllte Ereignisse erscheinen. Die Leere scheint immer schon ausgefüllt zu sein.
 
Kurz darauf meine ich nicht mehr auf der Bank zu sitzen, sondern ruckele in einem Bus durch die Landschaft, die sich in weiten, liebevollen Schwingungen um mich ausbreitet, freundlich und zärtlich zugleich.
Ich werde von Halluzinationen beherrscht. Freund Tim hat berichtet, wie verfemt Homosexuelle in den ersten Nachkriegsjahren waren, wie sie unter den Jungen sogar Haßobjekte waren. Ihm sei einmal ein homophiler Mitschüler entgegengekommen, aber er, Tim, habe für den Fall, daß „dieser etwas von ihm wolle“, ein Fahrtenmesser hinter dem Rücken bereit gehalten.
Für ihn mußte ein Mann damals ganz anders sein. Etwa wie der Jagdflieger Marseille, der über Nordafrika einen Engländer nach dem anderen abschoss.
Ich weiß von Marseille. Als er selbst abgeschossen worden war, soll ein englisches Geschwader über der Absturzstelle einen Kranz abgeworfen haben. Nachträglich schaudert mich bei diesen Erinnerungen. Solche schwächlichen Gesten lassen mir Hoffnungslosigkeit und Unerbittlichkeit noch deutlicher erscheinen. Die Gesellschaft schickt uns in den Tod.
Marseille habe ich einmal gesehen, als ich in Piräus – auf den Transport an die Front bei El Alamein wartend – im Soldatenkino war. Ein schlanker, hochgewachsener, sehr junger Fliegeroffizier mit Ritterkreuz am Hals kam und setzte sich zu uns in die Zuschauerreihe. In meiner Erinnerung hat er ein weiches, braves Gesicht.
Marseille zu sein – das war doch etwas ganz anderes. Marseille war göttlich. Jeder kannte Marseille, der konnte niemals untergehen oder verschwinden. Auch der qualvolle Tod von Heiligen verschwindet; was jedoch bleibt, ist ihr Bild auf Goldgrund. So auf Goldgrund übrig zu bleiben, das lohnt sich vielleicht, oder?
 
Es wird ganz still um mich. Der Bus hat angehalten. Ich blicke in die stummen Gesichter meiner Freunde um mich. Ganz hinten im Bus ahne ich meine Eltern. Niemand rührt sich.
Jetzt kommt der Busfahrer von vorne. Sich nach beiden Seiten auf die Sitzlehnen stützend, sagt er zu uns, die wir erwartungsvoll zu ihm aufblicken: „Dies ist die Endstation. Es geht nicht weiter.“
Ich blicke um mich. Marseille sehe ich nicht. Aber ein kühler Abendhauch weckt mich aus meinen Träumen.
 
 
© 2015 Karl Otto Mühl