Anforderungen an den Dichter

von Novalis

Novalis
Anforderungen an den Dichter
 
Der Dichter muß die Fähigkeit haben, sich andere Gedanken vorzustellen, auch Gedanken in allen Arten der Folge und in dem mannigfaltigsten Ausdrücken darzustellen. Wie ein Tonkünstler verschiedene Töne und Instrumente in seinem Innern sich vergegenwärtigen, sie vor sich bewegen lassen und sie auf mancherlei Weise verbinden kann, so daß er gleichsam der Lebensgeist dieser Klänge und Melodien wird, wie gleichfalls ein Maler, als Meister und Erfinder farbiger Gestalten, diese nach seinem Gefallen zu Verändern, gegeneinander und nebeneinander zu stellen und zu vervielfachen und alle möglichen Arten und einzelne hervorzubringen versteht, so muß der Dichter den redenden Geist aller Dinge und Handlungen in seinen unterschiedlichen Trachten sich vorzubilden und alle Gattungen von Spracharbeiten zu fertigen und mit besonderem, eigentümlichen Sinn zu beseelen vermögend sein. Gespräche, Briefe, Reden, Erzählungen, Beschreibungen, leidenschaftliche Äußerungen, mit allen möglichen Gegenständen angefüllt, unter mancherlei Umständen und von tausend verschiedenen Menschen, muß er erfinden und in angemessenen Worten aufs Papier bringen können. Er muß imstande sein, über alles auf eine unterhaltende und bedeutende Weise zu sprechen, und das Sprechen oder Schreiben muß ihn selbst zum Schreiben und Sprechen begeistern.
 
Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.
 
 
Novalis
(Friedrich Freiherr von Hardenberg)