Bengalische Glut

Eine Reiseerzählung

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker

Bengalische Glut


In der Früh immer noch, im Grenzland von Traum und Schlaf und Wachen, wenn die ersten Geräusche ins Ohr dringen, von der Straße, im Haus, der über Jahre gewöhnte Lärm in vertrauter Umgebung – immer noch passen die Bilder hinter den geschlossenen Augen nicht zu dem Geräusch. Immer noch sitzen mir die Farbspiralen Kolkatas im Sinn, und ich muß mich fassen erst und innehalten, zu erkennen wo ich bin. Der erste wache Gedanke am Morgen. Und schon enttäuscht. Die Stadt ist wieder Tausende von Kilometern entfernt, aber sie sitzt mir noch im Blut, im Pulsschlag. Die Nerven haben sich noch nicht geglättet und gedämpft ins Normale. Der Strom, der durch diese Stadt bebt, treibt sich weiter durch meinen Körper. Da kann der Kopf behaupten was er will.

Ich hatte mich aber auch hineingebohrt in diese Stadt, mit einer Wut, wie ich sie kaum mehr kenne, der wilden Gier der Jugend am ehesten, und mich vollgesaugt im Gehen, ein Gehen ohne Pause, ohne Ende. Das war nicht ich mehr, der da ging. Es war das Gehen selbst. Ein somnambules Vorwärts. Mehr. Längst war ich mitgenommen, mitgerissen von dieser gewaltig gewaltsamen Beweglichkeit auf jedem Fußbreit dieser Stadt.
Dort, wo ich hinwollte mit dem nächsten Schritt, hinmußte, um das Gleichgewicht zu halten, denn hinter mir drängte es wie von links und rechts und vorne, als strebten alle Kräfte just auf diesen Ort, wo mein Fuß landen sollte – dort, auf diesen zehn mal zehn Zentimetern war alles schon voll: die Blechwand eines Busses, ein keifendes Taxi, ein Fahrrad mit Anhänger voller Stoffballen, zwei Hunde, drei Mädchen in Schuluniform, ein Straßenhändler, ein Bettler auf seinem Karton, ein weißmähniger, halbnackter alter Mann, der eine Räucherkerze an einem Baumaltar anzündete, andere Passanten wie ich, aus allen nur denkbaren Richtungen. Und nirgendwo die Ausflucht in eine ruhige Seitenstraße, in eine Toreinfahrt, den Hauseingang, auf eine Baumscheide. Alles schon vielfach besetzt von anderen. Und dennoch ging es weiter, immer weiter, reibungslos, Schritt um Schritt. Kein einziges Mal bin ich angerempelt worden, nicht mal berührt. Es bewegte sich alles mit einer Weichheit um mich herum, die sich allen Erfahrungen widersetzt, die ich mir in anderen Städten erlaufen habe. Es war nicht zu fassen.

Mensch und Maschine sind alle in Eile, wollen alle irgendwohin. Doch ist keine Hast in ihnen, keine Ungeduld, keine Nervosität, irgendeine Gereiztheit. Selbst diese fühllosen Blechkübel, Bus wie Lastwagen, scheinen überall Sensoren zu haben, die jedes Anecken vermeiden. Und nie ein Stocken, nie ein Halt. Auch an den Kreuzungen nicht. Die Ampeln, sofern sie leuchten, funken ihr Rot und Grün mit einer Vergeblichkeit vor sich hin, die einen schon mitleidig stimmt. Der Schutzmann wedelt gezielt ins Ungewisse und nimmt selbst teil am geschmeidigen Tänzeln und Ausweichen, um die eigene Haut zu retten, das Weiß seiner Uniform. Und so bewegt sich dieses rastlose Weichtier, das Kolkata ist bei Tag und Nacht, mit seinen abermillionen Beinen, die wir Menschen sind, und keines, wirklich keines, verheddert sich, kommt überkreuz mit einem anderen. Und jeder erreicht dabei auch noch sein eigenes Ziel.
Dieses Wunder - hier will ich das Wort mal wagen - kennt nur eine Bedingung. Kein einziger der Abermillionen darf auch nur eine Sekunde lang innehalten zwischen dem einen Schritt zum nächsten. Weiter muß es, immer weiter. Wenn auch nur einer stehen bliebe – sie fielen übereinander, alles zerbräche und stünde still, für die Ewigkeit.
Die einzige Möglichkeit, auszusteigen aus der verhängten Allbeweglichkeit: Man legt sich einfach auf den Bürgersteig hin, ruhig auch quer, mit ausgestreckten Beinen, den Kopf unterm Arm, und schläft. Wer sich so bettet, kann das ohne Sorge tun. Nicht auch nur eine Sohle, ein einziger Zeh der abermillionenbeinigen Wanderspinne, die Kolkata heißt, wird ihn je antasten. Es geht über ihn hinweg, ohne böses Wort, Fluchen, einen versehentlichen Tritt. Kein Hindernis. Ein Mensch. Eine Lebewesen.

Tagelang bin ich so, Stunde um Stunde, die Innenstadt von Kolkata abgegangen, im Sog des schieren Gehens. Zu sehen, zu hören, zu riechen gab es mehr, als meine Sinne faßten. Jeder Schritt eine Entdeckung. Ein Gesicht, ein Gewand, eine Farbe. Verzuckt und vorbei. Kein zweiter Blick. Kein Nachschauen. Vorüber. Der nächste.
Was mich vorantrieb? Ich kann´s schwer sagen. Aus einem Wollen kam es kaum. Etwas zog und schob mich voran. Es ging ohne Ziel dahin, nur den Stadtplan in der Hand. Ihn aufzufalten fehlte meist der Raum. Fragen war sinnlos. Das Englisch, das die Menschen hier sprechen, und das meine sind zwei fremde Sprachen. Also diesem Geruch von Koriander nach – was mochte dort köcheln? Oder dem Bimmeln dreier heller Glöckchen – ein Tempel vielleicht? Und wie lang mag sich diese Straße noch ziehen, zu beiden Seiten Läden, die ausschließlich Hochzeitskarten anbieten, großformatige bunte Hochzeitskarten, alle handgefertigt, sonst nichts?
Und wenn ich mich zwischendurch mal fallen ließ auf den Schemel einer Bäckerei, einen Tee zu trinken aus dem zierlichen Tonnapf, spürte ich vor dem letzten Schluck bereits, wie etwas in mir weiterwollte, wie es mich wieder hinausdrängte, dabei zu sein, unterwegs, mit ihnen allen, ein Tropfen in diesem Meer von GehenGehen. Die Lust, eine Notiz zu machen, einen Blick in die Zeitung unterm Arm zu werfen, verklebt vom eigenen Schweiß? Keine Spur. Wie vergessen.

Einer der ganz wenigen Gedanken, zu dem es reichte im Rasen meines inneren Motors, den mir die Menschen von Kolkata immer neu betankten: Wenn du hier lebtest, in dieser Stadt, müßtest du anders schreiben. Hier, wo es keinen Rückzug gibt, kaum Platz für einen angewinkelten Arm. Wo jeder Blick verlöscht, ehe er zum Wort gefunden hat. Kein Nachprüfen möglich ist, ein Überdenken. Und ich es gar nicht wollen konnte, aus Sorge, den nächsten Blick zu verpassen, der etwas ganz anderes auslöste in mir. Und schon verfallen war wegen dieses dritten. Verwundert hat mich der Gedanke, nicht bestürzt. Mein Gehkörper hatte nicht die Temperatur von Trauer. Er glühte.
Nein. Am Bleistift, meinem Wanderstab durchs Leben, fand ich hier keinen Halt. Solang ich in der Stadt war, ging ich ohne ihn. Befreit? Jedenfalls ging es sich leicht.
Wenn ich irgendwann dann doch den Straßen den Rücken kehrte und zurückkam von meinen Wanderungen, nach stundenlangem Pflastertreten, Blasen an den Füßen, zurück in die Ruhezone meines Zimmers, dröhnend von Stille, kühl bis an Herz, spürte ich weder Müdigkeit noch Erschöpfung. Die Energie, die in den Straßen dieser Stadt bebt, war in mir, denn meine eigene konnte es unmöglich mehr sein. Ich war vollgesaugt davon. Von Fremdem. Von außen. Erfüllt von Glück. Vom Glück hierzusein. Mehr zu sein als mein dürftiges Selbst.
Daß ich in der Lage war, mir gleich den Ruß von der Haut und aus den Haaren zu waschen, und daß ich dann, wenn der Körper sich beruhigt hätte, essen konnte, wonach der Appetit mir stand, verzieh ich mir in dieser Stunde.

Kolkata ist eine Stadt ohne Reue. Dafür ist kein Platz in ihren Straßen.



© Michael Zeller - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008