Die Seele der Stradivari

Sibelius und Tschaikowski - Die Weite Kareliens und russisches Schicksal

von Johannes Vesper

Foto: Sinfonieorchester Wuppertal

Finnisch-Russisch im 4. Sinfoniekonzert

Die Weite Kareliens und russisches Schicksal
 
Im 4. Sinfoniekonzert der 154. Konzertsaison des Wuppertaler Sinfonieorchesters gab es unter der Leitung von Jonathan Stockhammer ein finnisch-russisches Programm: Die Karelia Suite von Jean Sibelius (1865-1957) und sein berühmtes Violinkonzert. Nach der Pause dann Tschaikowskis (1840-1893) Schicksalssinfonie, seine 4. in f-Moll. Zu Beginn also die Orchestersuite mit voll besetztem großen Orchester. Über leisem Paukenwirbel und dem Tremolo-Urnebel der Streicher eröffnen Hornfanfaren das 3-sätzige Musikstück, welches Sibelius den Studenten von Wyborg, der Universitätsstadt im finnischen Karelien, komponiert hatte. Das liedhafte Englischhorn-Solo des 2. Satzes wird mit den Minnesängern am Hof des schwedischen Königs im 15. Jahrhundert assoziiert, während der 2. Satz „Alla Marcia“ musikantisch und thematisch stets einfach und sehr harmonisch daherkommt. Leichte, populäre, romantische Kost zu Beginn also.
 
Da ist das Sibeliussche Violinkonzert von 1903 schon ein anderes und auch moderneres Kaliber. Über Pianissimo-Tremolo erklingt beglückend die

Pavel Berman - Foto © Hanninen
Seele der Stradivari „Conte di Fontana“ von 1702, die vor Pavel Berman David Oistrach gespielt hatte. Zwischen großen Orchesterschlägen entwickelt sich bald eine hochvirtuose Kadenz. In dem sinfonisch-rhapsodischen orchestralen Geschehen des 1. Satzes mit differenziertester Agogik und Dynamik fällt der sonore Alt der teilweise geteilten Bratschen immer wieder auf, während der Solist souverän den schwierigen Geigenpart mit Doppelgriffigkeit und rasanten Läufen über den gesamten Tonumfang der Geige von der Schnecke bis zum Ende des Griffbretts vor dem Steg meistert. Wunderbar wechseln die Celli zwischen liedhaften Themen zu flinken Arpeggien. Unter dem eleganten und klaren Dirigat des aus Los Angeles stammenden Amerikaners (inzwischen mit deutschem Paß) wird durchsichtig, nahezu kammermusikalisch musiziert. In die Pause zum 2. Satz klatscht ein Teil des Publikums offensichtlich in Unkenntnis der Gepflogenheiten. Dem elegisch- traurigen 2. Satz mit seinem endlos weitgespannten Geigenthema folgt der schnelle 3. Satz. Über rhythmisierten, leisen, tiefen Streichern nimmt die Sologeige, auch bei den schnellsten und höchsten Passagen im Flageolett immer hörbar, ihr Thema auf. Die Virtuosität des Solisten ist eine andere als die von Lionel Messi, von dessen analytischem Spiel er sich aber inspirieren lasse, sagt er. Dem Komponisten, der gerne eine geigerische Solistenkarriere gemacht hätte, ist es offensichtlich leichter gelungen dieses schwierige Werk zu komponieren. Spielen hätte er es nie gekonnt. Der 3. Satz endete nach vielen musikalischen Überraschungen und heftigen Orchesterschlägen etwas abrupt. Das begeisterte Publikum spendete dem russischen Virtuosen tosenden Beifall. Der bedankte sich mit J.S. Bachs Largo aus der 3. Violinsonate. Welch frappierender Gegensatz zwischen dem spätromantischen, großen Orchesterklang und der intimen, sublimen, persönlichen Sologeige bei Bach..
 
Nach der Pause brach dann die gewaltige 4. Sinfonie von Pjotr I. Tschaikowski über uns herein, der schon in früher Jugend von der Musik irritiert wurde. „Sie sitzt hier“ sagte er seiner Erzieherin und wies auf seine Schläfen, „sie quält mich furchtbar“. Seine Karriere als Komponist wurde von der Mäzenin Nadeshda von Meck 13 Jahre lang gefördert. Die 45-jährige Mutter von 12 Kindern hatte nach dem Tod ihres Mannes ein großes Vermögen geerbt, womit sie den stets viel Geld verbrauchenden Tschaikowski unterstützen konnte und wollte. Als dieser trotz seiner Homosexualität 1877 heiratete, brachen Depression und Perspektivlosigkeit über ihn herein. Nervenzusammenbruch, Suizidversuch folgten. Er entwickelte immer wieder psychosomatisch bedingte, funktionelle Störungen, trank zu viel Alkohol, rauchte maßlos, nahm Brom zur Beruhigung und hat sich in Kenntnis der großen Hamburger Choleraepidemie 1892 durch das Trinken unabgekochten Newa-Wassers selbst mit der Cholera infiziert, an der er starb. Kein glückliches Leben.
 

Jonathan Stockhammer - Foto © Marco Borggreve
 
In einer Phase relativer psychischer Stabilität aber komponierte er die 4. Sinfonie und widmete sie mit ihren autobiographischen Bezügen seiner Mäzenin. Rhythmisch erinnern die Eingangsfanfaren an die Schicksalssinfonie, die 5. von Beethoven und schicksalhaft kam es bei den stürmischen Fanfaren gleich zu Beginn zu unsauberen Ansätzen der Bläser, was das Publikum aber nicht weiter übelnahm. Im Verlauf der großen sinfonischen Entwicklung überzeugten dann auch Hörner wie Holzbläser mit weichem, klarem Klang und bestechenden Einsätzen bei insgesamt kräftiger Dynamik des gesamten Orchesters. Das wunderbare, melancholische Englischhornsolo des 2. Satzes über dem Pizzicato der Streicher rührte die Seele. Nach der Melancholie des Satzes wird mit dem Pizzicato des 3. Satzes und den flinken Holzbläsern inklusive der durchdringenden Piccolo-Flöte die Stimmung aufgehellt und im 4. Satz kann auch durch die gelegentliche Wiederaufnahme der Schicksalsfanfaren des 1. Satzes die Lebensfreude nicht ernsthaft getrübt werden. Das Publikum jubelte frenetisch und applaudierte mit stehenden Ovationen dem gut aufgelegten Orchester und dem jungen Dirigenten, der im Barmer Opernhaus an den Tagen zuvor die wichtige und sehr ernste Video-Oper Three Tales (Musik Steve Reich und Beryl Korot)) dirigiert hat, die hiermit dringend empfohlen wird. Insgesamt wird er bis zum 5. Februar Dirigierverpflichtungen im Tale nachkommen. Das Publikum kann sich auf das 5. Sinfoniekonzert am 15./16. Jan. 2017 mit Liszt (Orpheus) und Dupres (Orgel und Orchester) sowie Beethoven (Eroica) freuen.
 
Johannes Vesper